Das dunkle Labyrinth: Roman
selbstverständlich traf sie ihn gelegentlich bei gesellschaftlichen Anlässen. Das ließ sich ja kaum vermeiden, weil er schließlich Miss Jennifers Schwager war, und die Gebrüder Argyll standen einander sehr nahe.«
»Wissen Sie etwas über Mrs. Argylls Gefühle in dieser Sache? Sie saß doch sicher zwischen allen Stühlen.«
Cardmans Züge strafften sich, und er presste die Lippen aufeinander, ehe er antwortete.
»Sie war ihrem Mann treu ergeben, Sir. Sie war davon überzeugt, dass die Sorgen ihres Vaters seinen Sachverstand trübten, und sie ärgerte sich über ihre Schwester, weil sie ihn dabei unterstützte, anstatt ihm zuzureden, davon abzulassen.« Cardmans Stimme bebte geradezu vor Empörung und Trauer.
Monk war sich schmerzhaft dessen bewusst, dass das Haus, in dem Cardman lebte, ein Ort doppelter Schande war und es niemanden mehr zu geben schien, den das kümmerte, außer ihn selbst und vielleicht die anderen Bediensteten. Aber nun waren sie ohne Arbeit und bald wohl auch ohne Zuhause. Das führte Monk zu der Frage, wer das Haus erben würde. Nun, vermutlich Jenny Argyll als das letzte lebende Mitglied der Familie. Monk war sich sicher, dass diese Aussicht Cardman ganz und gar nicht behagte. Vielleicht verkaufte sie es; dann konnten die Bediensteten bleiben, zumindest bis zum Einzug der neuen Eigentümer.
»Ich verstehe«, sagte Monk und erhob sich. »Vielen Dank für Ihre aufrichtige Auskunft. Nur eines noch: Wer hat Mr. Havillands Tod untersucht?«
»Ein gewisser Superintendent Runcorn. Er war sehr anständig und schien äußerst gründlich vorzugehen. Ich könnte mir beim besten Willen nichts denken, was er noch hätte tun können.« Cardman stand nun ebenfalls auf.
Runcorn hatte sich also persönlich darum gekümmert! Einmal mehr spürte Monk den kalten Hauch der Vergangenheit. Eine schlimmere Antwort hätte er nicht erhalten können! Wie oft hatte er seinerzeit an Runcorn herumgenörgelt, seine Arbeit überprüft, hier und dort eine Unaufmerksamkeit korrigiert und seine Schlussfolgerungen abgeändert! Offenbar hatte er es wirklich nötig gehabt, als der Schlauere zu gelten. Der Mann, der er einst gewesen war, wurde ihm immer unsympathischer. Das wurde auch dadurch nicht besser, dass er Runcorn nicht mochte.
»Mr. Argyll hat dieses Urteil nicht angezweifelt?«, fragte er mit vor Betroffenheit rauer Stimme.
»Nein, Sir, nur Miss Mary.« Zumindest Monk gegenüber schien sich Cardman jetzt nicht mehr zu schämen, dass er sich seine Trauer so deutlich anmerken ließ. Er schluckte. »Sir, ich wäre Ihnen zutiefst dankbar, wenn Sie es uns wissen lassen könnten, wenn … wenn Sie … falls Mrs. Argyll nicht …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie es erfahren«, versprach Monk mit heiserer Stimme. »Aber … aber es wäre vielleicht eine Überlegung wert, ob die weiblichen Bediensteten wirklich daran teilnehmen wollen. Eine Beerdigung kann … sehr schlimm sein.«
Cardman hob den Kopf. »Sie wollen mir sagen, dass sie in ungeweihter Erde stattfinden wird. Das ist mir bewusst, Sir. Wenn Miss Mary stark genug war, um zur Beerdigung ihres Vaters zu gehen, dann können wir auch an ihrer teilnehmen.«
Monk nickte. Er hatte einen Kloß im Hals. Wegen Mary Havilland, wegen Hesters Vater, wegen zahlloser verzweifelter Menschen.
Cardman begleitete ihn in stillem Einverständnis zur Tür.
Auf der Straße draußen machte sich Monk zu Fuß in Richtung Westminster Bridge auf. Dort würde es leicht sein, einen Hansom zu bekommen, und er hatte es auch nicht eilig. Er musste sich Runcorn in dessen Revier stellen und wieder einmal sein Urteil anzweifeln, und dazu war er noch nicht bereit. Wäre es für ihn nicht eine derart qualvolle Vorstellung gewesen, dass Mary Havilland als Ausgestoßene verscharrt werden sollte und ihr Mut und ihre Liebe zu ihrem Vater für nicht mehr als der Wahn einer Verzweifelten gehalten wurden, dann hätte Monk die Entscheidung einfach anerkannt und seine Pflicht als erfüllt betrachtet.
Doch immer noch hatte er ihr Gesicht in Erinnerung, die weiße Haut, die kräftigen Knochen und den sanften Mund. Sie war eine Kämpferin, die geschlagen worden war. Er weigerte sich, zu akzeptieren, dass sie sich ergeben hatte. Jetzt zumindest war er noch nicht dazu in der Lage.
Er wollte sich auf das Gespräch mit Runcorn vorbereiten, seine Worte sorgfältig abwägen, um ihnen jede Kritik oder Schärfe zu nehmen und vielleicht sogar Runcorns Unterstützung zu
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