Das dunkle Netz der Lügen
ältesten Freunde, und seit er nach Ruhrort zurückgekehrt war, hatten sie sich noch nicht gesehen.
«Die Ehe scheint dir zu bekommen», sagte Lina, und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit war das eine glatte Lüge. Cornelius hatte abgenommen, was einem Mann von Mitte sechzig nur bedingt gut zu Gesicht stand. Unter den Augen hatte er tiefe Ringe, und er wirkte grau und müde. Lina fragte sich, ob die Melancholie, mit der er manchmal kämpfte, vielleicht wieder Besitz von ihm ergriffen hatte.
«Seit wann bist du unter die Schmeichlerinnen gegangen, Lina? Allerdings ist es nicht meine junge Frau, die mich so hat altern lassen. Die Krise hat allen meinen Unternehmungen stark zugesetzt. Ich habe in den letzten Wochen viel zu viel gearbeitet, fürchte ich.»
«Alle sagen, dass es wieder aufwärtsgeht, mein Lieber.»
Er lächelte, und ein bisschen kam das alte, wache Blitzen in seinen Augen zum Vorschein. «Das bedeutet eher mehr alsweniger Arbeit, fürchte ich. Aber Ferdinand Weigel ist mir eine Stütze und dein Bruder und Schwager auch.»
«Kann ich denn etwas für dich tun, lieber Freund?»
«Ich wollte dir persönlich eine Einladung überbringen, Lina. Elise und ich würden uns freuen, wenn du und Robert morgen Abend zu einem kleinen Dinner zu uns kommen könntet. Es bleibt sozusagen in der Familie – deine Schwester Guste und ihr Mann, Georg und Aaltje und natürlich Eberhard und Beatrice werden da sein. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile wieder in Ruhrort und habe außer Georg und Bertram kaum jemanden gesehen, nicht einmal mit Beatrice und ihrem Mann kam ich zu mehr als einem Mittagessen.»
«Morgen Abend? Das können wir einrichten. Ich hoffe nur, dass Robert auch Zeit haben wird. Beim Phoenix werden wieder Leute eingestellt, und er muss zusehen, dass die Registrierungen reibungslos laufen. Und er hat ja noch andere Dinge zu tun.»
«Ja, ich habe von dem Mord gehört. Ich dachte gleich an damals …»
Lina lächelte beruhigend. «Der Fall liegt ganz anders, Cornelius. Aber es gibt nach wie vor keine Spur von dem Mörder. Es ist so unwahrscheinlich, dass ein Dieb bei einem armen Lohnschuster einbrechen wollte, dass man sich fragt, ob nicht etwas anderes dahintersteckt. Vor allem weil die arme Anna ja wohl offensichtlich sterben sollte.»
«Wie ich Robert kenne, wird er den Fall schon lösen.» Er lächelte. «Und er hat ja noch dich.» Er warf einen Blick auf seine Taschenuhr. «Ich muss jetzt nach Hochfeld aufbrechen, aber es war mir wichtig, dich endlich zu sehen, meine Liebe. Bis morgen Abend um sieben Uhr!»
Er gab ihr die Hand und verschwand durch die Ladentür.
Lina winkte ihm hinterher und eilte dann in die Näherei, um sich den Schaden an der Nähmaschine anzusehen.
Annas Nähmaschine war nicht mehr zu gebrauchen, in der Mechanik für den Unterfaden war ein Teil gebrochen, und der Ruhrorter Schlosser, den Lina sonst in solchen Fällen konsultierte, hatte seinen Betrieb im Zuge der Krise aufgeben müssen und war fortgezogen. Eine neue Maschine in Amerika zu ordern würde Wochen, wenn nicht Monate dauern, und das Geld dafür war auch nicht da. Der Duisburger Schlosserbetrieb, zu dem sie Simon extra geschickt hatte, würde erst in zwei oder drei Wochen liefern können.
Glücklicherweise wusste Robert Rat. Er erinnerte sich, dass Ebel mit großer Verbissenheit den Geiger beobachtete, der gleichzeitig mit Zita nach Ruhrort gekommen war, immer in der Hoffnung, ihn, seine Frau und die sechs Kinder ausweisen zu können. Der Mann hatte zu Ebels Erstaunen tatsächlich Arbeit gefunden und tat nun Handlangerdienste in der Maschinenschlosserei des Phoenix-Werkes. Ebel war überzeugt davon, dass er mit dem Hungerlohn die große Familie nicht ernähren konnte, aber sie hatten ein Zimmer gemietet und bisher nicht um Unterstützung bei der Gemeinde ersucht. Der Geiger hatte erzählt, dass er in einer Textilfabrik die feinen Schlosserarbeiten ausgeführt hatte.
Robert suchte die Familie nach Schichtende des Phoenix auf. Sie wohnten in der Altstadt, im ersten Stock eines recht baufälligen Hauses in einer Nebengasse der Kleinen Straße. In seinen ersten Jahren in Ruhrort hatte sich Robert noch entsetzt über die Wohnverhältnisse der Arbeiter, doch inzwischen waren sechs bis zehn Personen in einem Raum, dazu dann noch ein oder zwei Kostgänger, die die Betten tagsüber belegten, ein vertrauter Anblick. Das Quartier des Geigers war eng, aber im Vergleich zu manch anderem fast komfortabel. Es gab zwei
Weitere Kostenlose Bücher