Das dunkle Netz der Lügen
Betten und immerhin einen Ofen, der allerdings gerade erst wieder angeheizt wurde. Für einen Tisch war kein Platz, die Familie hatte eine Truhe in dieLücke zwischen den Betten geschoben und sich daran zum Abendessen niedergelassen.
Acht Paar angstgeweitete Augen starrten den Commissar an. Der versuchte, beruhigend zu lächeln. «Guten Abend. Und guten Appetit.» Er streckte dem Familienoberhaupt die Hand hin. Der stand auf und schüttelte sie zaghaft.
Auf der Truhe stand ein Teller mit sechs Scheiben Brot, auf denen ein wenig Butter verschmiert war. Daneben lagen zwei verschrumpelte Äpfel. Es gab auch einen kleinen Krug Milch für die Kinder und einen Krug Bier für den Mann und seine Frau.
«Lassen Sie sich bitte nicht stören. Ich habe nur eine Frage an Sie, Herr Beermann.»
«Ja?»
Sie müssen sehr schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, dachte Robert. Und Ebel hatte sicher nicht dazu beigetragen, ihr Vertrauen in die Obrigkeit zu verbessern. «Sie haben Inspektor Ebel gegenüber erwähnt, dass Sie feine Schlosserarbeiten in einer Textilfabrik gemacht haben.»
Beermann nickte. «Das war noch in Coesfeld. Ich habe da gelernt. Aber dann konnte mein Vater das Lehrgeld nicht mehr bezahlen, da bin ich mit der Geige über Land.»
«Haben Sie schon einmal eine Nähmaschine gesehen?»
«Nun …» Beermann dehnte die Antwort. «Gesehen schon. Aber ein Lehrjunge durfte da nicht ran.»
«Aber zugesehen haben Sie?»
«Ja.»
Robert kam zur Sache. «Meine Frau betreibt ein Modegeschäft. Und eine der Maschinen aus Amerika ist kaputt. So kurz vor der Ballsaison ist das sehr schlecht.»
Beermann begriff. «Sie möchten, dass ich die Nähmaschine repariere?»
«Trauen Sie sich das zu? Wir würden Sie gut bezahlen.»
«Ich weiß nicht. Ich habe das noch nie gemacht.»
Frau Beermann mischte sich ein. «Du könntest es doch versuchen.»
«Ich habe keine Ausrüstung. Solche Teile kann ich nicht auf dem Phoenix gießen.»
Robert überlegte. Wenn Beermann die Reparatur nicht gelang, konnte immer noch die Duisburger Schlosserei beauftragt werden. Es war einen Versuch wert. «Meine Schwäger besitzen eine Gießerei, dort könnten Sie arbeiten. Wir zahlen Ihnen einen Thaler, wenn Sie die Maschine wieder in Gang bekommen. Und meine Frau gibt sicher noch ein paar Stoffe und Garn dazu.»
Frau Beermanns Augen leuchteten begehrlich. «Hans, bitte, versuche es.»
«Wenn ich es nicht schaffe … es ist meine Zeit …»
Robert lächelte. «Dann können wir immer noch über die Stoffe reden.»
Wie gewöhnlich trug Robert zu Abendeinladungen seine alte, aber immer noch tadellos sitzende Ausgehuniform aus seinen Zeiten als Leutnant im Kavallerieregiment, Lina hatte ihn bisher nicht überreden können, sich einen zivilen Abendanzug anzuschaffen. Sie trafen spät, aber pünktlich in dem kleinen Haus des Barons in der Friedrich-Wilhelm-Straße ein und wurden von Cornelius und seiner Frau begrüßt. Für Ruhrorter Verhältnisse war Elise in dem Ballkleid, das Lina ihr angefertigt hatte, entschieden zu fein. Die anderen Frauen hatten auf schlichte Eleganz gesetzt, gedeckte Farben, aber edle Stoffe und raffinierte Verzierungen.
Zunächst stand Beatrices Schwangerschaft im Mittelpunkt der Gespräche, und es gab auch reichlich Neckereien, dass der zukünftige Großvater Cornelius sich doch nun im Schlafrock und Pantoffeln zur Ruhe zu setzen hätte, was dieser mit Humorhinnahm. Die zukünftige Stiefgroßmutter hingegen reagierte mehr als säuerlich.
Der Baron saß am Kopfende der Tafel, zu seiner Rechten Elise, neben ihr Ferdinand Weigel, der auch zur Familie gehörig betrachtet wurde, zur Linken Lina und Robert. Während sich bei Georg und Bertram weiter unten am Tisch alles ums Geschäft drehte und Aaltje, Guste und Beatrice noch immer über Kinder und Familie redeten, entspann sich um den Baron eine angeregte Unterhaltung über die neuesten Bücher. Zu Linas Erstaunen erwies sich Elise als sehr belesen, und Lina war fast beschämt, denn in den letzten Jahren hatte sie selbst kaum noch Zeit für Bücher gefunden.
«Cornelius, ich glaube, dein Heine liegt immer noch bei mir, seit du ihn mir vor sechs Jahren geliehen hast. Und der Gustav Freytag auch.»
«Soll und Haben?» ,
fragte Elise. «Ein schreckliches Buch. Ich glaube, ich habe ich es nie zu Ende gelesen. Aber Heine liebe ich sehr.»
«Dann sollte ich ihn endlich zurückgeben.» Insgeheim nahm Lina sich vor, dass das
Buch der Lieder
ihre erste
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