Das dunkle Netz der Lügen
Anschaffung sein würde, wenn es die Wirtschaftslage wieder zuließ.
«Nein, behalte ihn», sagte Cornelius. «Ich habe mir längst eine neue Ausgabe gekauft.»
Die Räumlichkeiten im Hause ließen es nicht zu, dass sich nach Tisch die Männer und Frauen in verschiedene Zimmer zurückziehen konnten. Lina hatte gerade das immer an den Gesellschaften des Barons gemocht. Die gemeinsamen Gespräche aller waren ihr angenehmer, als mit den Frauen allein zu sitzen. Und seit sie den Modesalon hatte, kannte sie die wichtigen Gesprächsthemen der Frauen der Stadt zur Genüge.
«Schrecklich, dieses kleine, enge Haus», sagte Elise gerade.«In meinem Schlafzimmer kann ich mich in einer der neuen Krinolinen kaum umdrehen.» Sie lächelte. «Aber Cornelius hat mir ja versprochen, wenn wir schon in diesem Städtchen bleiben müssen, dann kauft er mir ein angemessenes Haus. Und weißt du was, mein Lieber? Ich habe mich bereits umgesehen und etwas Passendes gefunden. Ich habe es sogar schon besichtigt. Herr Weigel war so nett, mich zu begleiten.»
«Ach, und wo?», fragte Linas Schwester Guste. In den schweren Zeiten standen einige Häuser in Ruhrort zum Verkauf, die auch für eine reichere Familie angemessen waren.
«In der Schulstraße! Das Haus ist so gut wie neu, groß und komfortabel. Und es stehen sehr schöne Möbel darin, die man ebenfalls erwerben kann …» Elise stockte, denn die ganze Gesellschaft sah sie an, als hätte sie eine schlimme Nachricht verkündet.
«Es ist nur verwunderlich», sagte Ferdinand Weigel in die Stille hinein, «dass es anscheinend schon sechs Jahre leer steht. Dabei hat der Notar aus Duisburg versichert, dass Mauern und Fundament fest und trocken sind.»
Wieder schwiegen alle betreten, bis Cornelius von Sannberg sich räusperte und sagte: «Elise, dieses Haus werde ich auf keinen Fall kaufen. Niemand in Ruhrort würde das. Dort sind Dinge geschehen, über die niemand hier reden möchte …»
«Sag nicht, dort spukt es!» Elise blickte spöttisch in die Runde.
«Natürlich nicht», sagte Lina. «Obwohl es niemanden, der die Geschichte kennt, wirklich wundern würde.»
Elise sah sie ungläubig an. «Nein, wirklich, was kann hier schon passiert sein?»
Lina entschied, dass es besser wäre, Elise gleich aufzuklären. «In diesem Haus und in den Gewölben darunter wurden Menschen gequält und getötet, auch Kinder. Es ist einfach kein Ort für eine junge Ehe.»
Doch Elise ließ nicht locker. «Cornelius, gibst du wirklich etwas auf solche Gerüchte? Ich dachte, du wärst ein vernünftiger Mann.»
«Das sind keinesfalls Gerüchte, Frau von Sannberg.» Roberts besonnene Stimme hatte man an diesem Abend noch nicht oft gehört. «Vor sechs Jahren wurden hier in Ruhrort zwei halbwüchsige Mädchen, mehrere Huren und einige Säuglinge ermordet und schrecklich verstümmelt. Eine ganze Gruppe von Leuten steckte dahinter, und das Haus an der Schulstraße war so etwas wie das Zentrum ihrer Machenschaften. Ich habe die Fälle untersucht und mit eigenen Augen gesehen, was dort vor sich gegangen ist.»
«Eine der Toten lag übrigens hier in meinem Hof», bemerkte von Sannberg trocken. «Such dir ein anderes Haus aus, Elise.»
«In unserem Hof?», fragte Elise. Lina glaubte zu hören, dass ihre Stimme zitterte.
«Ja. Du siehst, ich bin nicht abergläubisch. Aber Wienholds Haus werde ich nicht kaufen, schon allein, weil er mein Geld nicht bekommen soll.»
«Es gehört noch immer diesen Leuten?», fragte Weigel ungläubig.
«Der Bürgermeister wollte kein Gerichtsverfahren riskieren, was er hätte tun müssen, um es einziehen zu können. Die Ereignisse damals waren mehr als unangenehm für die gesamte Stadt. Deshalb gehört es nach wie vor diesen Leuten, und deshalb steht es leer, seit sie die Stadt verlassen haben.» Man konnte Robert anhören, dass es ihm auch lieber gewesen wäre, er hätte einen Schlussstrich ziehen können. «In der Harmoniestraße, nicht weit von unserem, steht ein recht großes Haus zum Verkauf, direkt neben dem von Director de Gruyter. Vielleicht wäre das etwas für euch, Cornelius. Frag am besten den Bürgermeister.»
Elise hatte stumm zugehört, aber knetete die ganze Zeit ein Taschentuch in ihren Händen. «Cornelius, ich bleibe keine weitere Nacht in diesem Totenhaus. Wenn es sein muss, ziehe ich aufs Gut, bis du ein anderes Haus gefunden hast.»
«Aber Elise …»
«Nein. Ich bleibe nicht hier.» Sie stand auf und verließ den Raum.
Von Sannberg seufzte.
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