Das Dunkle Netz Der Rache
hätte vor dem Frühstück einen Spaziergang gemacht. Dieses Haus ist so riesig, zwei Leute können den ganzen Tag hier drin verbringen, ohne sich zu treffen.«
Über ihren Kopf sah Russ, wie Huggins sie anstarrte. »Es sei denn, es wären du und John Huggins. Zurück an die Arbeit, Liebling.«
Er liebte es, zuzusehen, wie ihre Wangen sich rosa färbten. Doch ihre Stimme klang so gelassen wie immer. »Er wird nur noch ein oder zwei Stunden weitermachen, ehe er uns entlässt. Danach bin ich zu Hause. Ruf mich an. Ich will wissen, was du über Michael McWhorter herausfindest.«
»Ma’am, zu Befehl, Ma’am.«
Ihr Mund deutete ein halbes Lächeln an, ehe sie sich umdrehte und wegging. Er schüttelte sich, kramte in seiner Tasche und zog die Schlüssel für den Truck heraus. Er würde zur Dienststelle fahren, jemanden damit beauftragen und sich dann verdrücken. Immerhin war heute sein freier Tag. Aber möglicherweise waren sie unterbesetzt, wegen des für die Jagd geöffneten Wochenendes und weil Duane unabkömmlich und Pete im Urlaub waren. Vielleicht sollte er sich selbst darum kümmern. Ihm fiel wieder ein, was Linda gesagt hatte: Ist das der Mann, der niemals Urlaub nimmt, weil sonst der ganze Polizeiapparat zusammenbricht? Vielleicht hatte sie recht. Sein Blick blieb an Clare hängen, die sich über den Tisch beugte und dabei eine lose Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. Vielleicht.
10:00 Uhr
Es berührte Becky eigentümlich, auf der Straße nach Haudenosaunee unterwegs zu sein – wenn man zwei Reifenspuren und etwas Kies Straße nennen durfte. Natürlich war sie schon früher häufig auf dem Besitz gewesen. Als Kind hatte sie ihren Vater besucht, wenn er in diesen Wäldern Holz schlug. Entweder fuhr sie hinter ihm auf dem Skidder mit, wobei ihr Atem in der Luft Wölkchen bildete, oder sie schaukelte auf den Sitzen des Holztransporters, der über die vereisten Spuren zur Straße kroch. Später dann, als Studentin, hatte sie Haudenosaunee als Millies Gast besucht. Sie waren zum Wasserfall gewandert, um dort zu schwimmen, und hatten in der Ruine des alten Gebäudes gekifft, dem einzigen Ort, an dem Millies Dad garantiert nicht über sie stolpern würde. Sie verband Haudenosaunee mit dem Grün des Sommers und mit winterlichem Schnee, nicht mit dieser grauen, kahlen Novemberlandschaft, und auf keinen Fall mit Einsamkeit.
Eine weitere sanfte Kurve, und sie trat auf die Bremse, weil ihr ein großer roter Pick-up entgegenkam. Der Pick-up, der von einem ebenso riesigen Mann in Jagdkleidung gefahren wurde, schaltete auf Schleichtempo herunter und fuhr dann so weit wie möglich an den Rand. Der Fahrer bedeutete ihr, weiterzufahren. Als sie an ihm vorbeikroch, kurbelte er sein Fenster herunter. Sie hielt an und tat dasselbe.
»Sie sind nicht zufällig Millie van der Hoeven, oder?«
Demnach einer von der Rettungsmannschaft. »Ich fürchte nicht. Ich bin eine Freundin von ihr. Wird sie noch immer vermisst?«
Er nickte. »Hoffentlich nicht mehr lange. Sie sind ihre Freundin, sagen Sie? Hat sie jemals erwähnt, dass sie sich hier in der Gegend mit jemandem trifft? Einem Mann?«
Becky stützte den Arm auf die Fensterkante. »Nein.« Seltsame Frage. Es sei denn – »Hat sie einen Freund? Glauben Sie, dass sie bei einem Mann sein könnte und nicht in den Wäldern?«
Der Mann nickte. »Vielleicht. Ich gehe dem gerade nach.« Er beugte sich vor und ließ den Pick-up an. »Tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe. Sie sehen einem Foto von ihr irgendwie ähnlich.«
»Schon in Ordnung. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.« Sie hob die Hand und legte den Gang ein. Als sie den Pick-up passiert hatte, kurbelte sie das Fenster wieder hoch. Sah aus wie Millie. Schön wär’s. Sie nahm an, dass für einen Typ im Alter ihres Dads alle Mädchen mit langen blonden Haaren gleich aussahen.
Sie hoffte, dass Millie einen unbekannten, heimlichen Freund hatte. Das ergab mehr Sinn, als sich auf Haudenosaunee zu verirren. Und, flüsterte diese egoistische Stimme in ihrem Hinterkopf, es würde bedeuten, dass sie zu der Zeremonie heute Abend erscheint. Becky verdrängte den Gedanken. Die Zeremonie würde stattfinden. Alle würden dort sein, die Papiere unterschreiben, Hände schütteln und in die Kameras lächeln. Über die Alternative wollte und konnte sie nicht nachdenken.
Sogar dieser Trip nach Haudenosaunee war reine Vertrauenssache. Hätte sie grundlegende Zweifel an der Abwicklung des Verkaufs gehabt, hätte sie den
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