Das dunkle Paradies
lavendelfarbene Strähne, ihre Fingernägel warenschwarz lackiert. Sie trug Jeans, rote Turnschuhe und einen blauen Sweater mit viel zu langen Ärmeln, sodass nur ihre Fingerspitzen sichtbar waren. In der Nase hatte sie eine Piercing – eine Perle.
Sie versuchte zu schweigen wie Jesse, aber es gelang ihr nicht. »Wollen Sie mich von der Mauer schmeißen oder was?«, fragte sie.
»Nein.«
»Warum sitzen Sie dann hier rum?«
»Ich hab darüber nachgedacht, was für eine Zeitverschwendung das hier für uns beide ist.«
»Ist ja toll.«
»Du sitzt auf der Mauer und rauchst Dope. Ich jage dich weg. Du kommst zurück. Ich jage dich weg. Du kommst zurück. Wir verschwenden beide unsere Zeit.«
»Ich verschwende meine Zeit nicht«, sagte Michelle.
»Wirklich?«
»Wirklich. Dies ist ein freies Land. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
»Und das hier ist genau das, was du willst?«, fragte Jesse. »Auf der Mauer sitzen und Dope rauchen?«
»Sie können nicht beweisen, dass ich Dope rauche.«
»Spielt doch keine Rolle.«
»Warum lassen Sie mich dann nicht in Ruhe?«
»Warum gehst du nicht zur Schule?«
»Die Schule nervt.«
Jesse grinste.
»Da hast du recht, Mädchen«, sagte er. »Kennst du den Song von Simon and Garfunkel: ›When I remember all the crap I learned in high school / It’s a wonder I can think at all‹?«
»Wer ist Simon and Dingsbums?«
»Zwei Sänger. Egal, die Schule nervt jedenfalls. Das ist der große Betrug. Andererseits quälen sich die meisten irgendwie durch, warum du nicht?«
»Ich muss ja nicht. Ich bin siebzehn.«
»Stimmt.«
Sie schwiegen eine Weile. Michelle versuchte Jesse verstohlen anzusehen.
»Meine Schwester sagt, sie sieht Sie manchmal unten im Gray Gull, wenn Sie was trinken.«
»Hmhm.«
»Wieso ist das erlaubt und Dope rauchen nicht?«
»Es ist legal und Dope rauchen ist illegal.«
»Und deswegen ist es richtig oder falsch?«
»Nein, nur legal und illegal.«
Michelle wollte was sagen, hielt dann aber inne. Sie versuchte nachzudenken. Schließlich sagte sie: »Das ist doch Verarschung.«
Jesse nickte.
»Es gibt eine Menge Dinge, die Verarschung sind«, sagte er. »Irgendwann versucht man dann, wenigstens zu vermeiden, dass man sich selbst verarscht.«
»Indem man Jugendliche herumscheucht?«
Jesse wandte ihr den Kopf zu und sah sie einen Moment lang an.
»Scheuche ich dich herum, Michelle?«
Sie zuckte mit den Schultern und blickte desinteressiert auf das weiße Versammlungshaus auf der anderen Straßenseite.
»Was, meinst du, wirst du in zehn Jahren machen?«, fragte Jesse.
»Wen interessiert das schon?«
»Mich. Hast du schon mal eine Dreißigjährige auf einer Mauer sitzen und Dope rauchen sehen?«
Michelle seufzte laut.
»Oh, bitte«, sagte sie mit Betonung auf bitte.
Jesse nickte wieder.
»Ja, klar, ich weiß schon«, sagte er. »Moralpredigten sind auch Verarschung.«
Sie lächelte beinahe und blickte gleich darauf umso finsterer drein, um es zu unterdrücken. Die Jungs vor dem Einkaufszentrum waren es offenbar müde geworden ihnen zuzusehen und waren weggegangen. Vor dem Eingangsportal der Städtischen Bibliothek jenseits des Parks stand eine junge Frau mit einem kleinen Kind, das sich an ihren Rock klammerte, ein zweites Kind auf dem Arm, und schob Bücher in die Rückgabebox. Jesse fragte sich, wann sie wohl die Zeit fand zu lesen.
»Glauben Sie, ich werde so enden wie die da?«, fragte Michelle und deutete auf die Frau.
»Nein.«
»Werd ich auch nicht.«
Jesse schwieg.
»Was ist also richtig und was falsch?«, fragte Michelle nach einer Weile.
»Richtig und falsch?«
»Ja. Sie haben was von legal und illegal gesagt. Aber was ist mit richtig und falsch? Spielt das keine Rolle?«
»Für solche Fragen bin ich nicht zuständig. Ich kümmere mich um legal und illegal.«
»Das ist eine typische Polizistenausflucht. Sie wollen nicht antworten.«
»Nein, das war eine Antwort. Ein Teil davon. Es geht darum, das, wofür man bezahlt wird, gut zu machen.«
Er merkte, dass sie ihn jetzt direkt ansah.
»Und manchmal ist das das Beste, was man tun kann. Die andere Sache ist die, dass die meisten Leute keine Probleme damit haben, was richtig oder falsch ist. Wissen, was richtig ist, ist nicht besonders schwer, aber es auch tun, ist ein bisschen schwieriger.«
»Das glauben Sie«, sagte Michelle in einem Ton, der klarmachte, dass sie es nicht tat.
»Klar. Du und ich, wir wissen beide, dass es nicht das Richtige für dich ist, dein
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