Das dunkle Paradies
Parkplatz kamen zahlreiche Eltern an. Sie hatten bereits von dem Mord in der High School gehört. Sie kamen, um nach ihren Kindern zu sehen. Jesse wusste, dass er mit ihnen reden musste. Er wusste, dass einige von ihnen versuchen würden, die Kinder nach Hause zu bringen. Er wollte, dass alle Kinder hierblieben, bis er sie befragt hatte, aber er wusste auch, dass das nicht möglich war und dass jeder Versuch, sie hierzubehalten, ihm nur mehr Ärger einbringen würde. Andere Leute tauchten jetzt auf. Keine Eltern. Irgendwelche Bürger aus der Stadt, die sich,je mehr sich die Neuigkeit herumsprach, schweigend so nahe wie möglich am Tatort versammelten. Er sah, wie Hasty Hathaway wichtigtuerisch durch die Menge ging. Über seinen schmalkrempigen Hut hatte er einen Regenschutz aus Plastik gezogen. Wahrscheinlich trägt er auch Gummiüberschuhe, dachte Jesse. Jo Jo Genest stand irgendwo herum, ohne Hut, in einem verknitterten Lackmantel. Jesse ließ seinen Blick auf Jo Jo ruhen. Jo Jo blickte zurück und grinste. Einen Moment lang zögerte Jesse, dann sah er sich weiter um. Er suchte nach Abby, aber er konnte sie nicht entdecken. Hinter der schweigenden Menge sah er den Wagen des Gerichtsmediziners ankommen und dahinter einen zivilen Einsatzwagen der Staatspolizei. Das musste der Typ vom Morddezernat sein.
Hathaway löste sich aus der Menge und sprach mit John DeLong, der die Absperrungen bewachte, und kam dann zu Jesse herüber. Es stimmt wirklich, dachte Jesse, er trägt Gummiüberschuhe.
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43
Jesse saß um Mitternacht mit einem Captain der Staatspolizei namens Healy in seinem Büro. Sie tranken Single-Malt-Whisky aus Wassergläsern. Healy hatte die Flasche aus seiner Aktentasche geholt, als er reingekommen war, und sie auf Jesses Schreibtisch gestellt. Die Schreibtischlampe mit dem grünen Schirm war die einzige Lichtquelle im Raum. Draußen senkte sich der dicke Nebel herab, fast so schwer, dass er als Nieselregendurchgehen konnte. Die Feuchtigkeit der Luft schien sich mit der des Meeres verbunden zu haben und es roch stark nach Ozean, obwohl es mehr als eine halbe Meile bis zum Hafen war. Bis auf die Stimmen und ein gelegentliches Knarren der Stühle, wenn einer von ihnen sein Gewicht verlagerte, besaß das Schweigen im Büro und außerhalb jene Schwere, die es nur nachts in einer kleinen Stadt haben konnte. Healy war ungefähr so groß wie Jesse, aber älter und etwas dünner. Sein kurzgeschnittenes Haar war grau. Er trug einen grauen Anzug, ein blaues Oxford-Hemd und eine rotblau gestreifte Krawatte. Seine schwarzen Schuhe glänzten auch noch so spät am Tag.
»Sie haben die Leitung der Ermittlungen in diesem Mordfall?«, fragte Jesse.
»Ja.«
Healys Augen hatten diesen ausdruckslosen Blick, den Jesse noch von früher kannte. Diese Augen hatten alles gesehen und glaubten nichts. Weder Mitleid noch Wut sprach aus diesen Augen, nur eine Art geduldiges Abschätzen, das ohne Vorurteile auskam und Ergebnisse nur ganz langsam formulierte. Manchmal, wenn Jesse unerwartet sein eigenes Bild in einem Spiegel oder einem dunklen Fenster erblickte, entdeckte er diesen Blick in seinen eigenen Augen.
»Wie kommt’s, dass wir Sie bekommen haben?«, fragte Jesse.
Healy nahm einen Schluck von seinem Whisky, hielt das Glas einen Moment lang ins Licht, um die Farbe zu begutachten.
»Ich hab mal hier in der Gegend im Büro des Staatsanwaltsvon Essex County gearbeitet. Ich lebe in Swampscott. Als die Anfrage durchkam, hab ich mich lieber gleich freiwillig gemeldet.«
»Schöne Gelegenheit, mal aus dem Büromief rauszukommen.«
Healy nickte.
»Ich arbeite nicht gern im Büro«, sagte er. »Aber ich mag die Bezahlung, die ich als Captain bekomme. Irgendjemand hat mir erzählt, Sie haben mal bei der Mord kommission gearbeitet.«
»In Downtown L.A.«
»Kennen Sie Cronjager?«
»Jep.«
»Wie kommt’s, dass Sie hier gelandet sind?«
»Cronjager hat mich gefeuert, weil ich im Dienst getrunken habe. Das war der einzige Job, der mir angeboten wurde.«
»Und wie geht’s Ihnen jetzt? Mal abgesehen von heute Abend.«
»Ich trinke nicht mehr im Dienst«, sagte Jesse.
»Nicht schlecht für den Anfang«, stellte Healy fest. »Hab gehört, Sie haben mal Baseball gespielt.«
»Die Leute reden so viel. Ja, ich war Shortstop. Bei den Dodgers. Hab mir meine Schulter ruiniert, als ich in Pueblo gespielt habe. Und das war’s
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