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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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sitzt hoch zu Ross und ich blicke zu ihm hinauf. »Die Antwort hat nie jemanden getötet, es sei denn, es war ein Unfall.«
    »Sechsundfünfzig Soldaten«, sagt Davy nur.
    »Fünfundsiebzig«, verbessert ihn der Bürgermeister. »Und dreihundert Gefangene, die geflohen sind.«
    »Sie haben hier schon einmal Bomben geworfen, erinnerst du dich?«, fügt Davy hinzu. »Diese Schlampen.«
    »Die Antwort weitet ihre Angriffe aus«, sagt der Bürgermeister und sieht dabei mich an. »Und wir werden ihnen eine entsprechende Antwort zurückgeben.«
    »Ja, verdammt noch mal, das werden wir«, sagt Davy und entsichert ohne unmittelbaren Grund sein Gewehr.
    »Es tut mir nur leid um Viola«, sagt der Bürgermeister zu mir. »Ich bin genauso enttäuscht wie du, dass sie nun dazugehört.«
    »Das wissen wir nicht«, entgegne ich leise.
    (Gehört sie dazu?)
    (Gehörst du dazu?)
    »Wie auch immer«, fährt der Bürgermeister fort. »Die Zeit, da du ein Junge warst, ist endgültig und unwiderruflich vorüber. Jetzt brauche ich Anführer. Ich brauche dich als Anführer. Bist du bereit, ein Anführer zu sein, Todd Hewitt?«
    »Ich bin bereit«, antwortet Davy an meiner Stelle, und sein Lärm verrät, dass er sich zurückgesetzt fühlt.
    »Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann, Sohn.«
    Da ist er wieder, sein rosaroter Lärm.
    »Ich will es von Todd hören.« Bürgermeister Prentiss reitet ein Stückchen näher zu mir heran. »Du bist nicht mehr mein Gefangener, Todd Hewitt. Darüber sind wir hinaus. Aber ich muss wissen, ob du dich mir anschließen willst …«, er nickt in die Richtung, wo die Lücke in der Mauer klafft, »… oder ihnen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
    Ich blicke auf das Klostergelände, auf die Leichen, auf all die entsetzten und ausdruckslosen Gesichter, auf diesen sinnlosen Tod.
    »Wirst du mir helfen, Todd?«
    »Wie soll ich Euch helfen?«, frage ich und schaue zu Boden.
    Aber er fragt noch einmal. »Wirst du mir helfen?«
    Ich muss an 1017 denken, der jetzt ganz allein auf der Welt ist.
    Seine Freunde, seine Familie, sie liegen jetzt wie Müll auf einem Haufen, eine Beute der Fliegen.
    Ich sehe dieses Bild immerzu vor mir, selbst mit geschlossenen Augen.
    Ich sehe immerzu dieses leuchtend blaue A vor mir.
    Ach, betrüg mich nie , kommt mir in den Sinn.
    Ach, verlass mich nie.
    (Aber sie hat mich verlassen.)
    (Sie hat mich verlassen.)
    Und ich bin tot.
    In meinem Inneren bin ich tot tot tot.
    Nichts ist mehr von mir übrig.
    »Ja«, antworte ich. »Ich werde Euch helfen.«
    »Sehr gut«, sagt der Bürgermeister zufrieden. »Ich wusste, dass du ein außergewöhnlicher Mensch bist, Todd. Ich habe es immer gewusst.«
    Davys Lärm schreit bei diesen Worten auf, aber der Bürgermeister kümmert sich nicht um ihn. Er wendet Morpeth, sodass er das von Leichen bedeckte Feld überblicken kann.
    »Und nun dazu, auf welche Weise du mir helfen kannst«, fährt er fort. »Wir haben jetzt die Antwort kennengelernt.« Seine Augen funkeln. »Jetzt ist es an der Zeit, dass wir sie uns genau anhören .«

TEIL V
    Das Amt für Anhörung

27
    So, wie wir jetzt leben
    [TODD]
    »Lasst euch nicht täuschen von der Ruhe, die im Augenblick herrscht«, sagt der Bürgermeister, der oben auf einem Podest steht. Seine Stimme dröhnt aus Lautsprechern, die an jeder Ecke stehen, sie sind extralaut eingestellt, damit das Dröhnen der Männer übertönt wird. An diesem kalten Morgen starren die Menschen in New Prentisstown zu ihm hinauf, die Männer drängen sich vor dem Podest, umringt von Soldaten, und die Frauen stehen weiter hinten, wo die Seitenstraßen einmünden. Alle stehen wir wieder hier.
    Davy und ich sitzen auf unseren Pferden, direkt hinter dem Podest, gleich hinter dem Bürgermeister.
    Wir sind so etwas wie eine Ehrenwache.
    Wir haben auch neue Uniformen.
    Ich denke: ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH.
    Denn wenn ich daran denke, dann muss ich über nichts anderes nachdenken.
    »Sogar in diesem Moment rücken unsere Feinde gegen uns vor. Sogar in diesem Moment planen sie, uns zu vernichten. Sogar in diesem Moment müssen wir ernsthaft damit rechnen, dass sie uns jederzeit angreifen.«
    Der Bürgermeister lässt seinen Blick langsam über die Menge schweifen. Man vergisst leicht, wie viele Menschen trotz allem noch in der Stadt sind, trotz allem noch arbeiten, noch immer versuchen, nicht zu verhungern, noch immer versuchen, sich durchzuschlagen. Sie sehen müde aus und hungrig, viele von ihnen sind

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