Das dunkle Paradies
schmutzig, aber dennoch starren sie gebannt zu ihm empor, sie hören ihm zu.
»Die Antwort kann überall und zu jeder Zeit zuschlagen, sie kann jeden treffen«, sagt er, obgleich die Antwort nichts dergleichen getan hat, schon seit mindestens einem Monat nicht. Der Überfall auf die Gefängnisse war die letzte Aktion der Rebellen, ehe sie in der Wildnis untergetaucht sind. Dabei haben sie die Soldaten, die zu ihrer Ergreifung entsandt waren, im Schlaf in ihren Unterständen getötet.
Aber das heißt auch: Sie sind irgendwo dort draußen, freuen sich diebisch über ihren Sieg und planen den nächsten Angriff.
»Dreihundert entflohene Gefangene«, fährt der Bürgermeister fort. »Fast zweihundert tote Soldaten und Zivilisten.«
»Die Zahlen steigen und steigen«, sagt Davy leise vor sich hin. »Wenn er das nächste Mal eine Rede hält, wird die ganze Stadt tot sein.« Er sieht mich an, um zu sehen, ob ich darüber lache. Ich lache nicht. Ich blicke ihn nicht einmal an. »Ist ja auch egal«, sagt er und hört weiter zu.
»Ganz zu schweigen von dem Massenmord an den Spackle«, spricht der Bürgermeister weiter.
Bei diesem Satz wird es unruhig in der Menge und das Dröhnen wird ein wenig lauter und flammender.
»Eben diese Spackle, die in den letzten zehn Jahren so friedfertig in euren Häusern gedient haben, die wir alle zu bewundern lernten für ihre unermüdliche Ausdauer. Jene Spackle, die unsere Gefährten waren in New World.« Hier macht er wieder eine Pause. »Sie alle sind nicht mehr, sie alle sind tot.«
Das Dröhnen wird lauter. Der Tod der Spackle hat wirklich alle betroffen gemacht, mehr als der Tod der Soldaten oder der vielen Stadtbewohner, die während der Angriffe umkamen. Die Männer haben sogar wieder damit begonnen, in die Armee einzutreten. Der Bürgermeister hat danach einige Frauen freigelassen, die noch im Gefängnis waren, einige von ihnen durften zu ihren Familien zurückkehren und mussten nicht in den Gemeinschaftsschlafsälen wohnen. Außerdem hat er die Essensrationen für jeden erhöht.
Und er hat damit angefangen, Massenkundgebungen wie diese abzuhalten. Bei denen er den Menschen alles erklären kann.
»Die Antwort behauptet, sie kämpfe für den Frieden. Sind das die Menschen, in die ihr eure Hoffnung auf Rettung setzt? Menschen, die imstande sind, eine ganze Einwohnerschaft zu ermorden, noch dazu eine unbewaffnete?«
Ich habe einen galligen Geschmack im Mund, und ich mache meinen Lärm ganz leer, mache ihn zu einer Ödnis, denke nichts, fühle nichts, außer …
ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH.
»Ich weiß, dass die vergangenen Wochen schwierig waren. Wasser und Lebensmittel waren knapp, die unvermeidlichen Ausgangssperren, die Stromabschaltungen, besonders während der kalten Nächte. Eure Standhaftigkeit ist lobenswert. Wir können diese Situation nur überstehen, wenn wir alle am gleichen Strang ziehen und uns gegen jene stellen, die uns vernichten wollen.«
Und haben die Menschen denn nicht alle am gleichen Strang gezogen? Sie fügen sich den Ausgangssperren, nehmen ohne Murren die kärglichen Zuteilungen von Wasser und Lebensmitteln hin. Sie bleiben in ihren Häusern, wenn sie in den Häusern bleiben sollen, löschen zur festgesetzten Stunde das Licht und versuchen ihr Leben so normal wie möglich weiterzuführen, auch wenn es draußen immer kälter wird. Wenn man durch die Stadt reitet, kann man sogar geöffnete Geschäfte sehen und davor lange Schlangen von Menschen, die darauf warten, das Nötigste zu bekommen. Sie warten mit gesenkten Augen, solange sie warten müssen.
Abends berichtet mir Bürgermeister Ledger, dass die Leute in der Stadt immer wieder über Bürgermeister Prentiss murren, aber noch mehr über die Antwort , weil sie das Wasserwerk und das Elektrizitätswerk in die Luft gesprengt hat, am meisten aber, weil sie alle Spackle getötet hat.
»Für die Leute«, sagt er, »ist Bürgermeister Prentiss das kleinere Übel.«
Wir hausen immer noch im Turm, ich und Bürgermeister Ledger, aus Gründen, die wohl nur Bürgermeister Prentiss kennt, aber ich habe jetzt einen Schlüssel, und ich schließe ihn ein, wenn ich nicht da bin. Er mag das nicht, aber wer weiß, was er sonst täte?
Es ist das kleinere Übel.
Ich frage mich, weshalb man im Leben immer nur zwischen zwei Übeln wählen kann.
»Ich möchte euch auch dafür danken«, spricht der Bürgermeister weiter zu den Menschen auf dem Platz, »dass ihr uns alles mitgeteilt habt, was ihr
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