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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Löschwasserschläuche von New Prentisstown dazu gebraucht werden, die Brände in den Gefängnissen zu löschen.
    »Es wird so schnell gehen, dass sie den Schlag gar nicht hören«, sagt Davy, während wir reiten, schnell reiten.
    »Wer wird den Schlag nicht hören?«
    »Die Antwort und alle, die den Rebellen helfen.«
    »Bis dahin wird niemand mehr übrig sein.«
    »Wir werden übrig sein«, sagt Davy und schaut mich an. »Das reicht für den Anfang.«
    Je weiter wir uns von der Stadt entfernen, desto ruhiger wird es auf der Straße, so ruhig, dass man beinahe glauben könnte, es sei nichts passiert, aber nur, solange man sich nicht genauer umsieht, dann nämlich bemerkt man die Rauchsäulen am Himmel. Hier draußen zeigt sich niemand mehr auf der Straße, und um uns herum wird es so still, als wäre hier die Welt zu Ende.
    Wir reiten an dem Hügel vorbei, auf dem die Überreste des Sendeturms liegen, aber wir sehen keinen einzigen Soldaten, der den Weg zum Turm hinaufgeht. Wir biegen um die letzte Straßenecke vor dem Kloster.
    Und wir reißen die Zügel zurück.
    »Heilige Scheiße!«, stößt Davy hervor.
    Die ganze vordere Wand ist weggerissen. Kein einziger Wachtposten ist auf der Mauer zu sehen, und dort, wo früher das Tor war, klafft jetzt ein riesiges Loch.
    »Diese Schlampen«, ruft Davy wütend aus. »Sie haben sie freigelassen.«
    Bei seinen Worten steigt ein seltsam freudiges Gefühl in mir auf.
    (Hat sie das getan?)
    »Verdammt, jetzt müssen wir auch noch gegen diese Viecher kämpfen«, jammert Davy.
    Aber ich springe von Angharrad, mir ist ganz federleicht im Kopf. Frei, denke ich. Sie sind frei.
    (Hat sie sich deshalb der Antwort angeschlossen?)
    Ich fühle mich so …
    So leicht und frei.
    Ich beschleunige meine Schritte, als ich mich dem Loch nähere, ich greife nach meinem Gewehr, aber irgendetwas sagt mir, dass ich es nicht brauchen werde.
    (Ach, Viola, ich wusste ja, dass ich darauf zählen konnte, dass …)
    Vor dem Loch bleibe ich stehen.
    Alles um mich herum erstarrt.
    Mein Magen sackt herunter.
    »Sind alle weg?«, fragt Davy, der mich einholt.
    Dann sieht er, was ich sehe.
    »Was zum …?«, sagt er.
    Die Spackle sind gar nicht weg.
    Sie sind noch alle da.
    Kein Einziger fehlt.
    Alle 1150 sind noch da.
    Sie sind tot.
    »Ich kapier das nicht«, sagt Davy.
    »Halt die Klappe«, sage ich leise.
    Die Außenmauern sind eingefallen, alles ist wieder freies Feld, und überall häufen sich die Leichen, sie wurden übereinandergeworfen oder ins Gras geschleudert, so als hätte sie jemand einfach weggeworfen, Männer und Frauen und Kinder und Babys, weggeworfen wie Müll.
    Irgendwo brennt noch etwas, und weißer Rauch schlängelt sich über das Gelände, er kreist um die Leichenhaufen, zupft wie mit Fingern an ihnen, aber er findet nichts Lebendiges mehr.
    Und diese Stille.
    Kein Zungenschnalzen, kein Schlürfen, ja nicht einmal ein Atmen.
    »Das muss ich Pa erzählen«, sagt Davy und rennt auch schon davon. Er springt auf Deadfall und reitet los.
    Ich reite ihm nicht nach.
    Meine Füße tragen mich nur vorwärts, mitten durch sie hindurch, mein Gewehr ziehe ich hinter mir her.
    Die Leichenberge türmen sich höher als mein Kopf. Die Augen stehen noch offen, auf den Schusswunden surren schon die Halmfliegen. Es scheint, als wären sie alle erschossen worden, den meisten hat man mitten in die Stirn geschossen, aber einige der Toten haben auch Schnittverletzungen, man hat ihnen die Brust oder die Kehle aufgeschlitzt, das Genick gebrochen, und jetzt sehe ich auch abgetrennte Gliedmaßen und …
    Mein Gewehr fällt ins Gras. Ich bemerke es kaum.
    Ich gehe weiter, mit starrem Blick und aufgerissenem Mund, ich kann nicht glauben, was ich sehe, begreife das Ausmaß all dessen nicht.
    Denn ich muss über Leichen steigen, die mit ausgebreiteten Armen daliegen, und diese Arme tragen Bänder, die ich dort angebracht habe. Ich sehe verzerrte Münder, die ich gefüttert habe, ich sehe Leiber mit gebrochenem Rückgrat …
    Oh Gott.
    Oh Gott, nein, ich habe sie gehasst.
    Ich wollte sie nicht hassen, aber ich konnte nicht anders.
    (Doch, ich konnte.)
    Ich denke daran, wie oft ich sie verwünscht habe.
    Wie oft ich mir eingeredet habe, sie wären Schafe.
    (Ein Messer in einer Hand, das zustößt.)
    Aber das habe ich nicht gewollt.
    Niemals, ich …
    Und ich biege um den größten Leichenhaufen, der sich an der Ostwand auftürmt …
    Und jetzt sehe ich es.
    Und ich stürze auf die Knie, auf das gefrorene Gras.
    Auf

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