Das dunkle Paradies
Stadt brennt und DRÖHNT es, aber ich nehme stark an, dass er nur deshalb mault, weil unser Frühstück zu spät kommt.
»Die Kapitulation sollte eigentlich Frieden bringen«, sagt er. »Und dieses verdammte Weib hat alles zunichtegemacht.«
Ich schaue ihn verständnislos an. »Wir leben hier nicht gerade im Paradies. Die Ausgangssperre, die Gefängnisse …«
Er schüttelt den Kopf. »Als Mistress Coyle ihren persönlichen Feldzug angefangen hat, war der Präsident gerade dabei, die Beschränkungen zu lockern. Alles wurde wieder besser.«
Ich blicke aus dem Fenster nach Westen, wo immer noch Rauch aufsteigt und Brände wüten und der Lärm der Männer nicht aufhören will.
»Man muss praktisch denken«, sagt Bürgermeister Ledger. »Sogar, wenn man es mit einem Tyrannen zu tun hat.«
»Das also bist du?«, frage ich. »Praktisch?«
Er kneift die Augen zusammen. »Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Junge.«
Ich weiß auch nicht genau, worauf ich hinauswill, aber ich habe Angst, und ich habe Hunger, und wir sitzen hier in diesem blöden Turm fest, während die Welt um uns herum in Trümmer fällt, wir können dabei zusehen, aber wir können nichts dagegen tun, und ich weiß nicht, welche Rolle Viola in dieser ganzen Sache spielt. Ich weiß nicht einmal, wo sie ist, und ich weiß nicht, was noch alles auf uns zukommt, und ich weiß auch nicht, wie aus alledem noch etwas Gutes werden soll, aber ganz sicher weiß ich, dass Bürgermeister Ledger mir weismachen will, wie praktisch er denkt, und dass mich das furchtbar ankotzt.
Oh ja, und da ist noch was.
»Nenn mich nicht mehr ›Junge‹.«
Er macht einen Schritt auf mich zu. »Wenn du ein Mann wärst, dann würdest du verstehen, dass die Welt etwas komplizierter ist und man sie nicht nur in richtig oder falsch einteilen kann.«
»Ein Mann, der nur seine eigene Haut retten will, würde das sicherlich so machen.« Und mein Lärm sagt: Versuch’s, komm schon, versuch’s.
Bürgermeister Ledger ballt die Fäuste. »Was weißt du schon, Todd«, sagt er, und seine Nasenflügel beben. »Was weißt du schon.«
»Was weiß ich denn nicht?«, frage ich zurück, doch dann macht die Tür Tschack! und wir beide springen auf.
Davy platzt herein, zwei Gewehre in der Hand. »Komm«, sagt er und gibt eines davon mir. »Pa braucht uns.«
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, gehe ich und lasse Bürgermeister Ledger zurück, der uns nachruft: »Hey!«, als Davy die Tür hinter sich zumacht.
»Sechsundfünfzig Soldaten tot«, sagt Davy, während wir die Stufen des Turms hinunterrennen. »Ein Dutzend von ihnen haben wir getötet und noch ein weiteres Dutzend geschnappt, aber sie haben sich mit fast zweihundert Gefangenen aus dem Staub gemacht.«
»Zweihundert?«, frage ich und bleibe einen Augenblick lang stehen. »Wie viele Leute waren denn im Gefängnis?«
»Komm schon, Schweinebacke, Pa wartet auf uns.«
Ich renne weiter und hole ihn ein. Wir gehen durch die Eingangshalle der Kathedrale auf den Haupteingang zu. »Diese Schlampen!«, sagt Davy kopfschüttelnd. »Du glaubst nicht, wozu die fähig sind. Sie haben eine Schlafbaracke in die Luft gejagt. Eine Schlafbaracke, in der gerade Männer schliefen.«
Wir treten hinaus und mitten hinein in das Chaos, das auf dem Vorplatz herrscht.
Der Qualm weht von Westen herbei und lässt die Stadt wie im Nebel erscheinen. Soldaten, einzelne wie auch Gruppen, laufen durcheinander, einige schubsen Leute vor sich her oder schlagen mit ihren Gewehren auf sie ein. Andere bewachen verängstigte Frauen oder treiben verängstigte Männer auseinander.
»Aber wir haben es ihnen gezeigt«, sagt Davy und schneidet eine Grimasse.
»Du warst dabei?«
»Nein.« Er blickt auf sein Gewehr. »Aber beim nächsten Mal werde ich dabei sein.«
»David!«, hören wir jemanden rufen. »Todd!«
Quer über den Platz kommt der Bürgermeister so schnell auf uns zugeritten, dass Morpeths Hufe Funken aus den Pflastersteinen schlagen.
»Beim Kloster ist was passiert«, ruft er. »Reitet schnell hin. Sofort!«
Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Wohin wir auch reiten, überall begegnen wir Soldaten. Sie treiben die Leute aus der Stadt vor sich her, zwingen sie, Eimerketten zu bilden, um die kleineren Brände zu löschen, die die ersten drei Bomben der vergangenen Nacht verursacht haben, die Bomben, die das Elektrizitätswerk, das Wasserwerk und ein Lebensmittelgeschäft dem Erdboden gleichgemacht haben. Und es brennt dort immer noch, weil alle
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