Das dunkle Paradies
»Gib es her!«
Ich muss blinzeln, weil mir Sand und Staub in die Augen geflogen sind, einen Augenblick lang weiß ich nicht mehr, wo ich bin.
DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS.
»Gib mir das Gewehr, Soldat!«
Der Bürgermeister schreit Ivan an, vor allem aber schleudert er ein ums andere Mal seinen Lärm gegen ihn und Ivan sinkt zu Boden.
»Todd!«
Neben meinem Kopf tauchen die Beine eines Pferds auf. Viola sitzt immer noch auf Angharrad. »Todd, komm zu dir!«, ruft sie.
Ich blicke zu ihr hinauf. »Gott sei Dank!«, ruft sie und ist zugleich verzweifelt. »Meine dummen Füße! Ich kann nicht von diesem verdammten Pferd heruntersteigen!«
»Mir geht’s gut«, sage ich, obwohl ich das nicht so genau weiß. Ich richte mich auf, in meinem Kopf dreht sich alles.
DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS.
»Todd, was ist los?«, fragt sie, als ich einen Zügel zu fassen bekomme und mich daran hochziehe. »Ich höre Lärm, aber ich …«
»Das Gewehr!«, befiehlt der Bürgermeister und geht einen Schritt auf Ivan zu. »Sofort!«
»Wir müssen ihm helfen«, sage ich und zucke im selben Moment zurück.
Denn jetzt trifft Ivan der bisher schärfste Angriff mit voller Wucht. Ein Strahl von Lärm, so weiß, dass man fast sehen kann, wie sich die Luft zwischen dem Bürgermeister und Ivan krümmt.
Ivan ächzt und beißt sich auf die Zunge.
Blut spritzt aus seinem Mund.
Und ehe er wie ein Kind aufschreit und der Länge nach hinfällt …
… lässt er das Gewehr fallen …
… lässt es in die Hände des Bürgermeisters fallen.
Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung nimmt er das Gewehr, spannt es und richtet es auf uns. Ivan liegt am Boden und krümmt sich.
»Was ist da gerade passiert?«, fragt Viola. Sie ist so wütend, dass sie kaum auf das Gewehr achtet.
»Er kann den Lärm für seine Zwecke einsetzen«, sage ich und lasse den Bürgermeister nicht aus den Augen. »Er kann ihn wie eine Waffe gebrauchen.«
»Genau so ist es«, sagt der Bürgermeister und lächelt dabei wieder.
»Ich habe nur lautes Schreien gehört«, sagt Viola und blickt zu den Männern, die reglos am Boden liegen. »Was meinst du mit ›Waffe‹?«
»Die Wahrheit«, antwortet der Bürgermeister an meiner Stelle. »Die Wahrheit ist die beste Waffe, die es gibt. Man sagt einem Mann die Wahrheit über sich selbst und das …«, er versetzt Ivan einen leichten Fußtritt, »… kann er nicht ertragen.« Er runzelt die Stirn. »Umbringen kann man ihn damit allerdings nicht.« Er sieht zu uns her. »Noch nicht.«
»Aber wie …«, fragt sie ungläubig, »wie könnt Ihr …«
»Ich habe zwei Grundsätze, auf die ich vertraue, mein liebes Mädchen.« Der Bürgermeister kommt mit langsamen Schritten auf uns zu. »Erstens: Wenn du Macht über dich selbst hast, dann hast du auch Macht über andere. Zweitens: Wenn du Macht hast über das, was andere wissen, dann hast du ebenso Macht über sie.« Seine Augen blitzen amüsiert. »Das ist eine Weltanschauung, die wie geschaffen für mich ist.«
Ich muss an Mr Hammar denken. An Mr Collins. An die Gesänge, die in meiner alten Heimatstadt aus dem Haus des Bürgermeisters kamen.
»Ihr habt es den anderen beigebracht«, sage ich, »den Männern aus Prentisstown, ihr habt ihnen beigebracht, wie man den Lärm beherrscht.«
»Mit unterschiedlichem Erfolg«, gibt er zu. »Aber es stimmt: Keiner meiner engsten Vertrauten hat je die Arznei genommen. Warum sollten sie auch? Es ist ein Zeichen von Schwäche, wenn man sich auf eine Droge verlässt.«
Jetzt steht er dicht vor uns. »ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH« , sage ich.
»Es war beeindruckend, wie schnell du gelernt hast, nicht wahr, Todd? Du hattest dich selbst vollkommen unter Kontrolle, während du den Frauen unvorstellbares Leid zugefügt hast.«
Mein Lärm wird feuerrot. »Seid still!«, sage ich. »Ich habe nur Eure Befehle befolgt.«
»›Ich habe nur Befehle befolgt‹«, äfft der Bürgermeister mich nach. »Dieser Satz dient Schurken seit ewigen Zeiten als Ausrede.« Er bleibt zwei Meter vor uns stehen, die Waffe zeigt noch immer direkt auf meine Brust. »Hilf ihr bitte vom Pferd, Todd.«
»Wie?«, frage ich.
»Ihre Fußgelenke machen ihr, glaube ich, zu schaffen. Sie wird beim Gehen deine Hilfe brauchen.«
Ich halte noch immer die Zügel in der Hand. Mir kommt eine Idee, die ich sofort zu verbergen suche.
Menschenfohlen? , fragt Angharrad.
»Lass es dir gesagt sein,
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