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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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schaut uns alle an. Ich höre, wie der Lärm der Männer anschwillt, Todds Lärm ist am lautesten, rot und schrill.
    »Ich lüge nicht, meine Herren«, sagt der Bürgermeister. »Man muss sich nur selbst beherrschen können, dann kann man auch den Lärm beherrschen. Man kann ihn zum Schweigen bringen.« Er blickt sie nacheinander an und sein Lächeln kehrt zurück. »Man kann sich den Lärm auch zunutze machen.«
    ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH, höre ich.
    Aber ich weiß nicht, woher die Stimme kommt. Kommt sie von ihm … oder von Todd?
    »Jetzt hab ich aber die Schnauze voll!«, schreit Ivan.
    »Weißt du, Soldat Farrow«, sagt der Bürgermeister langsam, »ich auch.«
    Und dann greift er an.

39
    Mein ärgster Feind
    [TODD]
    Die erste Lärmwelle braust an mir vorbei, ein Schwall aus Wörtern und Bildern und Geräuschen, er streift meine Schulter und trifft die Männer mit den Gewehren. Ich werfe mich zur Seite, denn die Männer haben angefangen zu schießen.
    Und ich stehe genau in der Schusslinie.
    »Todd!«, höre ich Viola rufen.
    Die Männer feuern wie wild, sie brüllen laut, und ich schlittere über das Geröll, reiße mir den Ellbogen auf, dann rapple ich mich auf und sehe, wie Korporal Dickwanst zusammengekrümmt vor Angharrad auf den Knien liegt, er hält sich mit beiden Händen die Ohren zu und stößt wortlose Schreie aus. Viola starrt ihn an und fragt sich wohl, was zum Teufel hier vorgeht. Ein Soldat liegt auf dem Rücken, er hat die Finger in die Augen gekrallt, als wollte er sie aus den Höhlen reißen, und ein Dritter liegt bewusstlos auf dem Bauch. Zwei andere rennen schon in die Stadt zurück.
    Der Lärm kommt vom Bürgermeister, er ist lauter und stärker als alles, was ich je gehört habe.
    Er ist sogar lauter als damals im Amt für Anhörung .
    Laut genug, um fünf Männer auf einmal außer Gefecht zu setzen.
    Nur Ivan ist stehen geblieben, die eine Hand hat er ans Ohr gepresst, mit der anderen versucht er mit dem Gewehr auf den Bürgermeister zu zielen, aber er fuchtelt damit gefährlich in der Luft herum …
    Peng!
    Direkt vor meinen Augen schlägt eine Kugel in den Boden ein, Staub und aufgewirbelter Dreck nehmen mir die Sicht.
    Peng!
    Eine weitere Kugel prallt von Mauersteinen ab.
    »Ivan!«, schreie ich.
    Peng!
    »Hör auf zu schießen! Du wirst uns noch alle umbringen!«
    Peng!
    Er feuert direkt neben Angharrads Kopf. Das Pferd bäumt sich auf. Viola, die nicht damit gerechnet hat, versucht mit aller Kraft die Zügel festzuhalten.
    Und dann sehe ich, wie der Bürgermeister näher kommt und näher und immer näher …
    Den Blick auf die Männer geheftet, geht er an mir vorbei.
    Und ich denke überhaupt nicht nach.
    Ich springe hoch, um ihn aufzuhalten.
    Und er dreht sich um und lässt seinen Lärm in einem gewaltigen Strahl genau auf mich los.
    Die ganze Welt versinkt in einem grauenhaften gleißenden Licht, einem Licht, in dem jeder merkt, wie sehr du leidest, in dem dich jeder sieht und über dich lacht und du dich nirgends verstecken kannst und DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS DU BIST NICHTS wie eine Kugel durch dich schießt und dir klarmacht, was mit dir nicht stimmt, was du in deinem Leben Schlechtes getan hast und dass du wertlos bist, nur ein Stück Scheiße, einfach ein Nichts, dass dein Leben keinen Sinn, keinen Grund, keinen Zweck hat, dass du die Wände deines Ichs einfach niederreißen, dich selbst in Stücke reißen und entweder sterben oder dein Leben dem Menschen opfern solltest, der dich retten kann, dein Leben dem Mann schenken, der dich beherrschen, der dir alles wegnehmen kann, der alles gut-, gut-, gutmachen kann.
    Aber nicht einmal dieser Lärm kann einen Körper aufhalten, der in voller Bewegung ist.
    Ich spüre das alles und ich fliege dennoch auf ihn zu, ich pralle gegen ihn und werfe ihn zu Boden, schleudere ihn die Stufen der Kathedrale hinunter.
    Er ächzt schwer, weil der Sturz ihm alle Luft aus der Lunge quetscht, und sein Lärmangriff stockt für einen kurzen Moment. Korporal Dickwanst schreit auf und fällt vornüber, Ivan schnappt nach Luft und Viola ruft: »Todd!«
    Plötzlich spüre ich eine Hand, die mich am Nacken fasst und meinen Kopf hochreißt, und dann blickt mir der Bürgermeister fest in die Augen.
    Diesmal trifft mich sein Lärm mit voller Wucht.
    »Gib mir das Gewehr!«, brüllt der Bürgermeister, er steht über Ivan, der am Boden kauert, eine Hand gegen sein Ohr drückt, aber sein Gewehr immer noch auf den Bürgermeister richtet.

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