Das dunkle Paradies
das?«, fragt Davy.
Es hat angefangen zu schneien.
Ich habe in meinem ganzen Leben nur einmal Schnee gesehen, vor langer Zeit, aber damals war ich noch viel zu jung und hatte keine Ahnung, dass ich wohl kaum jemals wieder Schnee sehen würde.
Weiße Flocken fallen durchs Geäst der Bäume und bleiben auf der Straße liegen, sie setzen sich auf unseren Haaren und auf unserer Kleidung fest. Sie fallen lautlos, und es ist seltsam, denn sie lassen auch alles um uns herum verstummen, so als wollten sie uns ein Geheimnis erzählen, ein fürchterliches, ein schreckliches Geheimnis.
Aber die Sonne brennt.
Und es ist auch kein Schnee, was da vom Himmel fällt.
»Asche«, sagt Davy und spuckt, als eine Flocke sich in seinen Mundwinkel setzt. »Sie verbrennen die Leichen.«
Sie verbrennen die Leichen. Die Männer mit ihren Gewehren stehen oben auf der Mauerkrone und lassen die überlebenden Spackle die Leichen zu Haufen aufschichten. Der brennende Leichenberg ist größer und höher als der größte Spackle, und die Spackle schleppen schweigend und mit gesenkten Köpfen immer mehr Leichen heran.
Ich schaue zu, wie sie einen Körper oben auf den Haufen werfen. Er landet an der Seite und rollt wieder herunter, rollt über andere Leichen, durch die Flammen, bis er auf dem Boden im Matsch landet, mit dem Gesicht nach oben, mit Löchern in der Brust und geronnenem Blut auf seinen Wunden.
(Ein Spackle mit totenstarren Augen, das Gesicht zum Himmel gewandt auf einem Lagerplatz.)
(Ein Spackle mit einem Messer in der Brust.)
Ich hole ganz tief Luft und schaue weg.
Abgesehen von ein paar Schnalzlauten haben die Spackle, die überlebten, noch immer keinen Lärm. Keinen Laut der Trauer, der Wut, keinen Laut des Schreckens über das Gemetzel, dessen Spuren sie hier beseitigen müssen.
Es ist fast so, als hätte ihnen jemand die Zungen herausgeschnitten.
Ivan ist da und wartet auf uns, das Gewehr in der Armbeuge. Er ist stiller als sonst an diesem Morgen und er sieht gar nicht glücklich aus.
»Ihr sollt mit dem Nummerieren weitermachen«, sagt er und wirft uns die Tasche mit den Bändern und den Werkzeugen zu. »Jetzt habt ihr ja weniger zu tun.«
»Wie viele haben wir erwischt?«, fragt Davy grinsend.
Ivan zuckt verdrießlich die Schultern. »Dreihundert, dreihundertfünfzig, genau weiß ich es nicht.«
Bei dem Gedanken daran wird mir ganz flau im Magen, aber Davys Grinsen wird sogar noch breiter. »Ja, das war wirklich ’ne tolle Nummer.«
»Ich soll dir das geben«, sagt Ivan und hält mir ein Gewehr hin.
»Du willst ihn bewaffnen?« Davys Lärm schwillt sofort mächtig an.
»Befehl vom Präsidenten«, schnauzt Ivan. Er hält mir immer noch das Gewehr hin. »Wenn du gehst, sollst du es bei der Nachtwache abgeben. Es ist nur zu deinem Schutz, solange du hier bist.« Dann fügt er stirnrunzelnd hinzu: »Der Präsident sagt, er sei überzeugt, dass du das Richtige tust.«
Ich starre das Gewehr an.
»Ich kann’s, verdammt noch mal, nicht glauben«, knurrt Davy leise und schüttelt den Kopf.
Ich weiß, wie man mit einem Gewehr umgeht. Ben und Cillian haben es mir beigebracht, damit ich mir nicht aus Versehen den Schädel wegpuste. Ich weiß, wie man damit jagt. Ich weiß, dass man es nur im Notfall benutzt.
Das Richtige tun.
Ich blicke mich um. Die meisten Spackle sind verschwunden, haben sich in die entlegeneren Felder zurückgezogen, so weit weg vom Eingang wie nur irgend möglich. Die übrigen zerren die geschundenen und verstümmelten Leichen zum Feuer, das in der Mitte eines Feldes brennt.
Aber die, die mich sehen können, beobachten mich.
Sie beobachten, wie ich das Gewehr betrachte.
Und ich kann ihre Gedanken nicht hören.
Wer also kann wissen, was sie vorhaben?
Ich nehme das Gewehr.
Es hat ja nichts zu bedeuten. Ich werde es ja nicht gebrauchen. Ich nehme es einfach.
Ivan dreht sich wortlos um und geht zum Tor und da bemerke ich es.
Ein leises Summen , gerade laut genug, dass man es hören kann, aber es ist unverkennbar da. Und es wird lauter.
Kein Wunder, dass er so stinksauer ist.
Der Bürgermeister hat ihm die Arznei gestrichen.
Den restlichen Vormittag sind wir damit beschäftigt, das Futter aus dem Schuppen zu schaufeln, die Wassertröge aufzufüllen und die Gruben mit Kalk abzudecken, ich mit einer Hand, Davy mit einem Bein. Aber wir brauchen viel mehr Zeit, als selbst unter diesen Umständen nötig gewesen wäre, denn auch wenn er den Mund recht voll nimmt, glaub ja nicht, dass er
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