Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
Vom Netzwerk:
trägt er einen Korb und in der freien Hand hält er eine Birne. Er mustert mich von Kopf bis Fuß, sieht den Sack über meiner Schulter, sieht, dass ich in der Dämmerung alleine auf der Straße unterwegs bin, erkennt an meinem keuchenden Atem, dass ich offensichtlich gerannt bin.
    Und ich höre seinen Lärm so klar wie der helle Tag.
    Die Antwort , denkt er.
    »Nein«, sage ich, »das bin ich nicht.«
    Aber er hält seinen Finger an die Lippen.
    Er nickt in Richtung Straße.
    Und ich höre, wie sich in der Ferne Soldaten nähern.
    »Da entlang«, flüstert der Bauer. Er zeigt auf einen schmalen Pfad, der in den Wald führt. Wenn man ihn nicht kennt, kann man ihn leicht übersehen. »Jetzt aber schnell.«
    Ich schaue ihn an, vermute eine Falle, versuche seinen Lärm auszuforschen, aber mir bleibt keine Zeit. Mir bleibt einfach keine Zeit.
    »Danke«, sage ich und fange an zu laufen.
    Der Pfad führt geradewegs in dichtes Unterholz und immerzu bergauf. Er ist schmal und ich muss Ranken und Äste zur Seite biegen, um vorwärtszukommen. Der dichte Wald verschlingt mich, ich gehe immer nur geradeaus weiter und hoffe, dass ich nicht in eine Falle geraten bin. Als ich oben auf dem Hügel ankomme, stelle ich fest, dass ich wieder einen sanften Abhang hinuntersteigen und eine weitere Anhöhe erklimmen muss. Ich laufe die ganze Zeit ostwärts, aber ich habe keine Übersicht und kann daher nur vermuten, wo die Straße verläuft und wo der Fluss ist.
    Plötzlich stolpere ich auf eine Lichtung hinaus.
    Und auf dieser Lichtung steht ein Soldat, keine zehn Meter von mir entfernt.
    Er wendet mir den Rücken zu (was für ein Glück, was für ein Glück), und bei seinem Anblick rutscht mir das Herz in die Kniekehlen, und erst als ich mich wieder gefasst und in die Büsche zurückgezogen habe, sehe ich, was er bewacht.
    Da steht er.
    Er steht mitten auf einer Lichtung auf der Hügelkuppe, ragt auf seinen drei Beinen fast fünfzig Meter hoch in den Himmel. Die Bäume im Umkreis wurden gefällt, und auf der anderen Seite der Lichtung, die dem Tal zugewandt ist, erkenne ich ein kleines Gebäude und eine Straße, die den Hang hinab zum Fluss führt.
    Ich habe den Sendeturm gefunden. Hier steht er.
    Und so viele Soldaten sind gar nicht da. Ich zähle fünf, nein, sechs.
    Nur sechs. Sie stehen weit voneinander entfernt.
    Ich freue mich.
    Ich freue mich wie verrückt.
    Ich habe ihn gefunden.
    Wumm! , ertönt es in der Ferne jenseits des Turms.
    Ich zucke zusammen, wie die Soldaten. Wieder eine Bombe. Wieder ein Lebenszeichen der Antwort .
    Die Soldaten ziehen ab.
    Sie laufen los, in die Richtung, aus der der Knall kam, weg von mir, den Hügel hinunter, dorthin, wo schon eine weiße Rauchsäule aufsteigt.
    Der Turm ist zum Greifen nahe.
    Und völlig unbewacht.
    Ich nehme mir nicht einmal die Zeit nachzudenken, wie dumm das eigentlich ist, was ich mache.
    Ich laufe einfach los.
    Laufe auf den Turm zu.
    Wenn ich überhaupt eine Chance habe, meine Leute zu warnen, dann …
    Ich weiß gar nichts.
    Ich renne einfach drauflos.
    Über die offene Lichtung.
    Immer auf den Turm zu.
    Auf das Gebäude zu, das unter dem Turm steht.
    Ich kann meine Leute warnen.
    Ich kann uns alle retten.
    Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie noch jemand aus der Deckung der Bäume auftaucht.
    Jemand, der geradewegs auf mich zuläuft.
    Jemand, der meinen Namen ruft.
    »Viola!«, höre ich. »Bleib zurück!«
    »Viola, nein!«
    Mistress Coyle ist es, die mich ruft.
    Ich bleibe nicht stehen …
    Sie auch nicht.
    »Bleib zurück!«, schreit sie.
    Und sie läuft über die Lichtung.
    Und sie rennt und rennt und rennt.
    Und dann sehe ich es.
    Es trifft mich wie ein Faustschlag in die Magengrube.
    Ich sehe, weshalb sie schreit.
    Nein …
    Sogar, als ich wie angewurzelt stehen bleibe …
    Nein, denke ich.
    Nein, das kannst du nicht machen.
    Und jetzt ist Mistress Coyle bei mir.
    Das kannst du nicht …
    Sie wirft sich auf mich und reißt uns beide zu Boden.
    Nein!
    Drei grelle Blitze und dann fliegen die Stützpfeiler des Turms in die Luft.

TEIL IV
    Die Nacht bricht herein

19
    Was du nicht weißt
    (VIOLA)
    »Runter von mir!«
    Sie presst mir die Hand auf den Mund, drückt mich mit ihrem ganzen Gewicht zu Boden, während uns die Staubwolken von den Trümmern des Sendeturms einhüllen.
    »Hör auf zu schreien«, zischt sie mich an.
    Ich beiße sie in die Hand.
    Sie verzieht schmerzvoll das Gesicht, grimmig und wütend, aber sie lässt mich nicht los, sie achtet nicht auf die

Weitere Kostenlose Bücher