Das dunkle Paradies
Schmerzen und bleibt auf mir liegen.
»Später kannst du schreien, so viel du willst, mein Mädchen«, sagt sie, »aber in zwei Sekunden wimmelt es hier nur so von Soldaten. Meinst du wirklich, die glauben dir, dass du rein zufällig hier bist?«
Sie wartet ab, um zu sehen, wie ich darauf reagiere. Ich starre sie an, aber schließlich nicke ich doch. Sie nimmt die Hand von meinem Mund.
»Hört auf, mich ›mein Mädchen‹ zu nennen«, sage ich, leise zwar, aber genauso wütend wie sie. »Nennt mich niemals wieder so.«
Ich folge ihr einen steilen Abhang hinunter, es geht wieder zurück Richtung Straße. Ich rutsche auf taunassem, welkem Laub aus, schlittere abwärts, springe über umgestürzte Baumstämme und Wurzeln, der Sack lastet wie ein Felsbrocken auf meiner Schulter.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Sie hätten mich gefangen oder weiß der Himmel was mit mir gemacht, wenn ich in die Stadt zurückgekehrt wäre. Denn sie hat dafür gesorgt, dass ich keine andere Wahl mehr habe.
Sie erreicht ein großes Gebüsch am Fuß eines steilen Abhangs, kriecht hinein und bedeutet mir, ihr zu folgen. Ich rutsche neben sie und bin schon ganz außer Atem, da sagt sie zu mir: »Egal, was du sonst tust, du darfst auf keinen Fall herumschreien.«
Noch ehe ich etwas erwidern kann, schleicht sie schon wieder aus dem Gebüsch und die Äste schnellen an ihren Platz. Ich muss mich durch dichtes Blattwerk kämpfen, um ihr zu folgen. Ich biege ein paar Zweige zur Seite und plötzlich stolpere ich auf der anderen Seite des Gebüschs ins Freie.
Auf die Straße.
Auf der zwei Soldaten neben einem Mann auf einem Fuhrwerk stehen und sofort mich und Mistress Coyle anstarren.
Die Soldaten sehen eher verblüfft als wütend aus, aber sie haben keinen Lärm, deshalb ist es schwer zu sagen.
Dafür haben sie Gewehre.
Die sie sofort auf uns richten.
»Wen zum Teufel haben wir denn da?«, schnauzt einer von ihnen, ein Mann mittleren Alters mit kahl rasiertem Kopf und einer langen Narbe quer über dem Kinn.
»Nicht schießen!«, sagt Mistress Coyle und hebt die Hände hoch.
»Wir haben die Explosion gehört«, sagt der zweite Soldat, der nicht viel älter ist als ich und blonde, schulterlange Haare hat.
Dann spricht wieder der erste Soldat, er sagt etwas völlig Unerwartetes: »Ihr seid spät dran.«
»Es reicht, Magnus«, sagt Mistress Coyle. Sie lässt die Hände sinken und macht ein paar Schritte auf das Fuhrwerk zu. »Und steck die Waffe weg. Das Mädchen gehört zu mir.«
»Was soll das?«, frage ich und rühre mich nicht vom Fleck.
»Die Leuchtspurbombe hat komplett versagt«, sagt der jüngere Soldat zu Mistress Coyle. »Wir wissen nicht einmal genau, wo sie eingeschlagen hat.«
»Ich hab’s ja gesagt, sie war zu alt«, erklärt Magnus.
»Sie hat ihren Zweck erfüllt«, sagt Mistress Coyle und macht sich am Fuhrwerk zu schaffen, »egal wo sie eingeschlagen hat.«
»Hey«, mische ich mich ein. »Was geht hier vor?«
Und dann höre ich, wie jemand sagt: »Hildy?«
Mistress Coyle bleibt wie angewurzelt stehen, ebenso die beiden Soldaten, alle drei starren den Mann auf dem Fuhrwerk an.
»Das bist du, nich wahr?«, fragt er. »Die Hildy, die auch Viola ist.«
Ich habe nur auf die beiden Soldaten geachtet und kaum Notiz genommen von dem Mann, von seinem beinahe ausdruckslosen Gesicht, seiner Kleidung, seinem Hut, seiner Stimme und seinem Lärm, der ebenmäßig und ruhig wie der ferne Horizont ist.
Der Lärm des Mannes, der Todd und mich durch das Meer aus Tieren gefahren hat.
»Wilf!«, rufe ich atemlos.
Jetzt richten sich aller Augen auf mich, Mistress Coyle zieht die Brauen bis zum Haaransatz hoch.
»Hey«, begrüßt mich Wilf.
»Hey«, antworte ich, zu verblüfft, um mehr zu sagen.
Er tippt sich mit zwei Fingern an die Hutkrempe. »Bin froh, dass du es geschafft hast.«
Mistress Coyle bewegt den Mund, aber ein paar Sekunden lang bringt sie keinen Ton heraus. »Dafür ist später Zeit«, sagt sie schließlich. »Wir müssen weg von hier.«
»Ist denn genug Platz für zwei?«, fragt der jüngere Soldat.
»Es muss irgendwie gehen.« Mistress Coyle bückt sich unter den Wagen und zieht ein Brett vor. Sie winkt mich zu sich. »Da hinein.«
»Wo hinein?« Ich bücke mich ebenfalls, und da sehe ich einen Verschlag an der Unterseite des Karrens, er ist kaum zu erkennen, eine schmale, enge Pritsche über der Hinterachse.
»Gepäck wird nich reingehen«, bemerkt Wilf und zeigt auf den Sack auf
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