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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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setzt sich kerzengerade hin. »Das kann nicht sein!«
    Und dann sage ich es, ohne dass ich es eigentlich sagen will, es rutscht einfach so heraus, und ich stelle fest, dass ich es noch nie gesagt habe, weder laut noch zu mir selbst, niemals habe ich es gesagt, nicht seit es passiert ist, und jetzt ist es doch heraus. Der Satz purzelt hinein in die schwebenden Flaumfedern.
    »Ich habe jemanden erstochen.« Ich rupfe nicht weiter. »Ich habe jemanden umgebracht.«
    In der Stille, die darauf folgt, komme ich mir vor wie von einer schweren Last niedergedrückt.
    Als ich zu weinen beginne, drückt mir Lee ein Geschirrtuch in die Hand, er drängt mich nicht, er schweigt, denn alles, was er sagen würde, würde albern klingen. Er stellt mir keine Fragen, obwohl er sicher vor Neugierde platzt. Er lässt mich einfach weinen.
    Er tut genau das Richtige.
    »Ja, aber die Zustimmung für unsere Sache wächst«, sagt Lee, als wir unser Abendessen mit Wilf und Jane fast beendet haben. Ich lasse mir mit dem Essen noch etwas Zeit, denn sobald ich fertig bin, muss ich zurück in die Küche und den Sauerteig vorbereiten, damit wir am nächsten Morgen Brot backen können. Man glaubt es nicht, wie viel von diesem blöden Brot hundert Menschen verzehren können.
    Ich kaue auf meinem letzten Bissen herum. »Ich will damit nur sagen, dass ihr nicht sehr viele seid.«
    »Wir sind nicht sehr viele«, verbessert mich Lee und schaut mich ernst an. »Aber wir haben überall Spione, die Menschen schließen sich uns an, wenn sie können. In der Stadt wird es von Tag zu Tag schlimmer. Dort werden schon die Lebensmittel rationiert und keiner bekommt mehr die Arznei. Bald werden sie sich gegen ihn auflehnen.«
    »Und so viele sind im Gefängnis«, fügt Jane hinzu. »Hunderte von Frauen, alle eingesperrt, alle in Ketten gelegt, in Verliesen, sie verhungern und sterben weg wie die Fliegen.«
    »Frau!«, fährt Wilf barsch dazwischen.
    »Ich sag nur, was ich gehört hab.«
    »Nichts haste gehört.«
    Jane blickt verdrießlich. »Was nicht heißt, dass es nich wahr ist.«
    »Es gibt viele Leute, die uns jederzeit aus dem Gefängnis raushelfen«, sagt Lee. »Und das könnte …« Er bricht mitten im Satz ab.
    »Was?«, frage ich. »Was könnte das?«
    Er antwortet nicht, sondern schaut zum Nebentisch, an dem Mistress Coyle mit Mistress Braithwaite, Mistress Forth, Mistress Waggoner, Mistress Barker und Thea sitzt und wie immer ins Gespräch vertieft ist. Sie flüstern, denken sich geheime Befehle aus, die andere ausführen müssen.
    »Nichts«, sagt Lee, denn er sieht, wie Mistress Coyle aufsteht und zu uns an den Tisch kommt.
    »Wilf, ich brauche den Wagen für eine Tour heute Nacht«, sagt sie beim Näherkommen.
    »Ja, Mistress«, antwortet er und steht auf.
    »Lass dir nur Zeit mit dem Essen«, hält sie ihn zurück. »Du machst hier keine Zwangsarbeit.«
    »Ich mach’s gern«, erwidert Wilf, er streicht sich die Hose glatt und geht.
    »Und wen wollt Ihr heute Nacht in die Luft jagen?«, frage ich.
    Mistress Coyle presst die Lippen zusammen. »Ich denke, jetzt ist es genug, Viola.«
    »Ich möchte mitkommen«, sage ich. »Wenn Ihr heute Nacht in die Stadt geht, möchte ich mitkommen.«
    »Geduld, mein Mädchen«, antwortet sie. »Dein Tag wird kommen.«
    »Und wann ist dieser Tag?«, frage ich, als sie schon wieder im Gehen ist. »Wann?«
    »Geduld«, sagt sie nur.
    Aber es klingt sehr ungeduldig.
    Mit jedem Tag wird es früher dunkel. Ich sitze draußen auf einem Steinhaufen, als die Nacht sich herabsenkt, und sehe zu, wie die Leute, die zu ihrem Einsatz aufbrechen, sich zu den Fuhrwerken begeben, ihre Taschen randvoll mit geheimnisvollen Sachen. Einige der Männer haben inzwischen wieder Lärm, sie nehmen kleine Dosen von den schwindenden Arzneivorräten mit, die in der Höhle versteckt sind. Sie nehmen gerade so viel, dass sie in der Stadt nicht auffallen, aber genug, um in ihrem Lärm nichts zu verraten. Es ist schwierig, hier das rechte Maß zu finden, und es wird immer gefährlicher für die Männer, sich auf die Straßen der Stadt zu wagen, aber sie gehen dennoch.
    Während die Menschen in New Prentisstown heute Nacht schlafen, werden sie bestohlen, und es werden Bomben explodieren, und das alles im Namen des Rechts.
    »Hey«, begrüßt mich Lee, der neben mir aus dem Halbdunkel auftaucht und sich neben mich setzt.
    »Hey«, grüße ich ihn zurück.
    »Geht’s dir gut?«
    »Warum sollte es mir schlecht gehen?«
    »Ja, warum?« Er nimmt

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