Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
Vom Netzwerk:
einen Stein und wirft ihn in die Nacht. »Warum sollte es dir schlecht gehen?«
    Die ersten Sterne funkeln am Himmel. Irgendwo dort oben sind die Raumschiffe mit meinen Leuten. Menschen, die uns vielleicht geholfen hätten, nein, die uns ganz bestimmt geholfen hätten, wenn ich mit ihnen Kontakt hätte aufnehmen können. Darunter Simone Watkin und Bradley Tench, anständige Leute, kluge Leute, die diesem ganzen Wahnsinn, dem Bombenwerfen, Einhalt geboten hätten …
    Ich habe wieder einen Kloß im Hals.
    »Du hast tatsächlich jemanden getötet?«, fragt Lee und wirft noch einen Stein.
    »Ja«, antworte ich und ziehe die Knie an.
    Lee schweigt einen Augenblick, dann fragt er: »Mit Todd?«
    »Für Todd«, sage ich. »Um ihn zu retten. Um uns zu retten.«
    Jetzt, da die Sonne untergegangen ist, wird es schnell empfindlich kalt. Ich ziehe die Knie noch fester an meinen Körper, um mich zu wärmen.
    »Sie hat Angst vor dir, weißt du«, spricht er weiter. »Mistress Coyle. Sie glaubt, dass du große Macht über andere Menschen hast.«
    Ich schaue ihn von der Seite an, versuche in seiner Miene zu lesen. »Das ist Unsinn.«
    »Ich habe gehört, wie sie es zu Mistress Braithwaite gesagt hat. Sie meinte, du könntest eine ganze Armee anführen, wenn du nur wolltest.«
    Ich schüttle den Kopf, doch das kann er natürlich nicht sehen. »Sie kennt mich ja nicht einmal richtig.«
    »Ja, aber sie ist schlau.«
    »Und alle hier folgen ihr wie eine Schafherde.«
    »Alle, außer dir.« Er versetzt mir mit der Schulter einen freundschaftlichen Schubs. »Vielleicht ist es das, was sie meint.«
    Wir hören ein leises Rumoren, das aus den Höhlen kommt. Die Fledermäuse machen sich zu ihrer nächtlichen Jagd bereit.
    »Weshalb bist du hier?«, frage ich ihn. »Weshalb folgst du ihr?«
    Ich hatte ihn das schon früher gefragt, aber er war der Frage bisher immer ausgewichen.
    Aber vielleicht ist es heute ja anders. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass es heute anders ist.
    »Mein Vater fiel im Spackle-Krieg«, sagt er.
    »Viele Väter starben damals«, sage ich und muss an Corinne denken. Ich frage mich, wo sie jetzt wohl sein mag, frage mich …
    »Ich kann mich gar nicht richtig an ihn erinnern«, fährt Lee fort. »Meine Mutter hat mich und meine ältere Schwester großgezogen. Meine Schwester …« Er lacht. »Du würdest sie mögen. Immer ist sie in Bewegung, immerzu redet sie, wir haben uns manchmal so heftig gestritten, du würdest es nicht glauben.« Er lacht wieder, diesmal aber verhaltener. »Als die Soldaten kamen, wollte Siobhan gegen sie kämpfen, aber Mum war dagegen. Ich wollte auch kämpfen, aber Siobhan und Mum bekamen richtig Streit deswegen, Siobhan wollte unbedingt zur Waffe greifen, und Mum musste mehr oder weniger die Tür verrammeln, damit sie nicht auf die Straße hinausrannte, als die Armee einmarschierte.«
    Das Rumoren wird immer lauter, und der Lärm der Fledermäuse dringt aus der Höhlenöffnung. Fliegen, fliegen , sagen sie. Weg, weg .
    »Und dann haben uns die Ereignisse überrollt«, fährt er fort. »Die Soldaten waren da und noch in derselben Nacht brachten sie alle Frauen weg in die Häuser im Osten der Stadt. Mutter wollte sich nicht gegen sie stellen, wollte erst mal abwarten, wohin das alles führt. ›Vielleicht ist er ja gar nicht so übel.‹ So ähnlich sagte sie damals.«
    Ich schweige und bin dankbar, dass es dunkel ist und er mein Gesicht nicht sehen kann.
    »Aber Siobhan wollte eben nicht freiwillig klein beigeben. Sie schrie die Soldaten an und weigerte sich mitzugehen, und Mum flehte sie an, doch damit aufzuhören, die Soldaten nicht gegen sich aufzubringen, aber Siobhan …« Er hält inne und schnalzt mit der Zunge. »Siobhan schlug dem ersten Soldaten, der sie mit Gewalt wegbringen wollte, ins Gesicht.«
    Er holt tief Luft. »Und dann brach ein entsetzlicher Tumult los. Ich wollte kämpfen, aber plötzlich lag ich auf dem Boden, in meinen Ohren dröhnte es, und ich spürte das Knie eines Soldaten in meinem Rücken, Mum schrie, von Siobhan sah und hörte ich nichts, dann wurde ich ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, war ich allein zu Hause.«
    Fliegen, fliegen , hören wir, jetzt direkt am Höhleneingang. Weg, weg, weg .
    »Als die Ausgehverbote gelockert wurden, habe ich mich auf die Suche nach ihnen gemacht«, fährt er fort, »aber ich habe sie nie wieder gesehen. Ich habe in jeder Hütte, in jedem Schlafsaal, in jedem Haus der Heilung nachgesehen. Und endlich, im letzten

Weitere Kostenlose Bücher