Das dunkle Paradies
zurückkommen.«
Ich will ihr widersprechen, aber ich sehe, wie sie die Hände ringt, wie sorgenvoll ihr Blick ist, wie all das sie aufwühlt. Und dann sagt sie: »Wenn überhaupt jemand zurückkommt.«
Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten. Jane kocht Kaffee für uns, und wir sitzen draußen, wo es immer kälter wird, schauen auf den Pfad, der aus dem Wald hinausführt, schauen, wer wohl auf diesem Pfad zurückkommen wird.
»Frost«, sagt Jane und fährt mit dem Fingernagel über eine hauchdünne Eisschicht, die sich auf einem Stein neben ihren Füßen gebildet hat.
»Wir hätten es früher tun sollen«, sagt Mistress Lawson, den Kopf dicht über die Kaffeetasse gebeugt, damit der Dampf ihr Gesicht wärmt. »Wir hätten es tun sollen, bevor sich das Wetter verschlechtert.«
»Was hätten wir tun sollen?«, frage ich.
»Sie retten«, antwortet Jane knapp. »Wilf hat es mir gesagt, als er ging.«
»Wen retten?«, frage ich, obwohl es eigentlich klar ist.
Wir hören Steine den Pfad herabpoltern. Wir sind schon aufgesprungen, als plötzlich Magnus den Hügel herunterstolpert. »Schnell!«, schreit er. »Kommt her!«
Mistress Lawson rafft die Notfallversorgung zusammen und rennt ihm hinterher. Jane und ich ebenso.
Wir sind schon fast den halben Abhang hinauf, als sie aus dem Wald kommen.
Sie liegen auf Fuhrwerken, auf Tragen, auf Pferden, manche werden auf Schultern getragen, andere kommen den Pfad herunter und wieder andere über den Hügelkamm.
Alle, die gerettet werden mussten.
Alle Gefangenen, die der Bürgermeister und seine Soldaten eingesperrt haben.
Und in welchem Zustand sie sind …
»Oh mein Gott«, sagt Jane neben mir leise, wir stehen wie angewurzelt da.
Oh mein Gott.
Die nächsten Stunden vergehen wie in einem Nebel, wir beeilen uns, die Verwundeten ins Camp zu bringen, aber einige von ihnen sind so schwer verletzt, dass wir sie an Ort und Stelle behandeln müssen. Ich werde von einer Heilerin zur nächsten gerufen, hetze von einem Verwundeten zum nächsten, laufe wieder zurück, um neues Verbandsmaterial zu holen, alles geht so schnell, dass ich eine Weile brauche, bis mir klar wird, dass sich die meisten ihre Wunden nicht im Kampf zugezogen haben.
»Sie wurden geschlagen«, sage ich.
»Und man hat sie hungern lassen«, fügt Mistress Lawson wütend hinzu und gibt einer Frau, die wir in die Höhle getragen haben, eine Spritze in den Arm. »Und gefoltert.«
Die Frau ist nur eine von vielen, und es sieht so aus, als würde die Zahl derer, die neu ankommen, niemals enden. Die meisten von ihnen sind zu verstört, um auch nur ein Wort zu sagen. Sie starren schweigend vor sich hin, sie haben Brandwunden auf den Armen und im Gesicht, alte, nie behandelte Wunden, und die eingefallenen Augen dieser Frauen erzählen, dass sie seit vielen, vielen Tagen nichts mehr gegessen haben.
»Das ist sein Werk«, sage ich zu mir selbst. »Ganz allein sein Werk.«
»Gibt acht, dass du nichts fallen lässt«, mahnt Mistress Lawson. Wir eilen wieder nach draußen, die Arme beladen mit Verbandsmaterial, aber es reicht nicht im Mindesten aus. Mit einer hektischen Handbewegung winkt mich Mistress Braithwaite zu sich. Sie reißt mir einen Verband aus der Hand und umwickelt damit in aller Eile das Bein einer Frau, die auf dem Boden liegt und schreit. »Jeffers-Wurzel«, schnauzt sie mich an.
»Ich habe keine mitgebracht«, antworte ich.
»Dann, zum Teufel, hole welche!«
Ich laufe in die Höhle zurück, weiche den Heilerinnen und Gehilfinnen aus und den falschen Soldaten, die sich überall – oben auf dem Hügel, auf den Pritschen der Fuhrwerke – um die Verletzten kümmern. Denn es sind nicht nur Frauen, die verletzt wurden. Ich sehe auch männliche Gefangene, sie sind ebenso ausgehungert, wurden ebenso schlimm misshandelt. Ich sehe auch Leute aus unserem Camp, die im Kampf verwundet wurden, auch Wilf, auf dessen einer Gesichtshälfte ein Brandpflaster klebt, aber er hilft trotzdem, andere Verwundete auf Tragen ins Lager zu bringen.
Ich hole noch mehr Verbandsmaterial und Jefferswurzel. Ich blicke zum Pfad hinauf, immer noch kommen Menschen an.
Ich halte einen Augenblick inne und betrachte die neuen Gesichter, ehe ich wieder zu Mistress Braithwaite laufe.
Mistress Coyle ist noch nicht wieder zurück.
Auch Lee nicht.
»Er war mittendrin«, erzählt mir Mistress Nadari, als ich ihr helfe, eine Frau aufzurichten, der sie eben starke Beruhigungsmittel gegeben hat. »Er schien jemanden zu
Weitere Kostenlose Bücher