Das dunkle Paradies
suchen.«
»Seine Mutter und seine Schwester«, erwidere ich und stütze die Frau alleine.
»Wir konnten nicht alle befreien«, sagt Mistress Nadari. »In einem der Gebäude sind die Bomben nicht hochgegangen.«
»Siobhan!«, hören wir jemanden in einiger Entfernung rufen.
Ich drehe mich um, mein Herz beginnt zu rasen, ich bin selbst ganz überrascht. »Er hat sie gefunden!«, rufe ich lächelnd.
Aber gleich darauf wird mir klar, dass es nicht stimmt.
»Siobhan?« Lee kommt aus dem Wald heraus, Arm und Schulter seiner Uniformjacke sind schwarz, sein Gesicht ist rußverschmiert, er blickt ziellos umher, hierhin und dorthin, blickt durch die Menschen hindurch, als er an ihnen vorbeigeht.
»Mum?«
»Geh und sieh nach, ob er verletzt ist«, sagt Mistress Nadari.
Ich überlasse es ihr, die Frau zu stützen, und renne zu Lee, ohne auf die anderen Heilerinnen zu achten, die laut nach mir rufen.
»Lee!«
»Viola?«, sagt er fragend, als er mich erblickt. »Sind sie hier? Weißt du, ob sie hier sind?«
»Bist du verletzt?«, frage ich, als ich bei ihm bin. Ich reiße den versengten Ärmel von seiner Jacke und dann sehe ich seine Hände. »Du hast dich verbrannt.«
»Überall war Feuer …« Er schaut mich an, aber er sieht mich nicht, vor seinen Augen steht noch immer das, was er in den Gefängnissen gesehen hat, er sieht die Brände und das, was jenseits der Feuer war, er sieht die Gefangenen, die das Befreiungskommando fand, vielleicht sieht er auch die Wachleute, die er töten musste.
Aber seine Mutter und seine Schwester sieht er nicht.
»Sind sie hier?«, fragt er flehentlich. »Sag mir, dass sie hier sind!«
»Ich weiß nicht, wie sie aussehen«, antworte ich leise.
Lee starrt mich mit offenem Mund an, sein Atem geht schwer und er keucht, als hätte er zu viel Qualm eingeatmet. »Es war …«, sagt er. »Oh Gott, Viola, es war …« Er hebt den Kopf, blickt über meine Schulter, an mir vorbei. »Ich muss sie finden. Ich muss sie hierherbringen.«
Er stolpert weiter. »Siobhan? Mum?«
Ich kann nicht anders und rufe ihm hinterher: »Lee? Hast du Todd gesehen?«
Aber er geht einfach weiter.
Dann höre ich, wie jemand »Viola!« ruft, und zuerst denke ich, es ist eine Heilerin, die meine Hilfe braucht.
Aber dann sagt jemand neben mir. »Da ist Mistress Coyle!«
An der höchsten Stelle des Pfads reitet Mistress Coyle, sie galoppiert so schnell, wie ihr Pferd nur laufen kann. Hinter ihr über dem Sattel liegt jemand, sie hat ihn festgebunden, damit er nicht vom Pferd fällt. In mir keimt Hoffnung auf. Vielleicht ist es Siobhan. Oder Lees Mutter.
(Oder vielleicht ist er es ja, vielleicht …)
»Hilf uns, Viola«, ruft Mistress Coyle und zerrt an den Zügeln.
Ich renne los, und in diesem Augenblick dreht sich das Pferd zur Seite, um sicheren Tritt zu finden, und da sehe ich, wer da bewusstlos und schlaff auf dem Rücken des Pferdes liegt.
Es ist Corinne.
»Nein«, stoße ich leise hervor, denn ich will es nicht wahrhaben. »Nein, nein, nein, nein, nein«, sage ich immer wieder, als wir sie auf einen flachen Stein betten und Mistress Lawson mit einem Armvoll Verbandsmaterial auf uns zugerannt kommt. »Nein, nein, nein«, sage ich und nehme ihren Kopf in meine Hände, damit er nicht auf dem harten Stein liegt, während Mistress Coyle den Ärmel von ihrem Kleid reißt, um ihr eine Spritze zu geben. »Nein«, sage ich vor mich hin, als Mistress Lawson vor uns steht und Corinne erkennt.
»Ihr habt sie gefunden«, sagt Mistress Lawson.
Mistress Coyle nickt. »Ja, ich habe sie gefunden.«
Ich spüre Corinnes Kopf in meinen Händen liegen, spüre, wie sie vor Fieber glüht. Ich sehe, wie eingefallen ihre Wangen sind, sehe die Blutergüsse um ihre Augen, die aufgedunsene Haut und das Schlüsselbein, das im Ausschnitt ihrer zerrissenen und schmutzigen Heilerinnen-Uniform hervortritt. Und die Brandflecken an ihrem Hals. Und die Schnittverletzungen auf ihren Unterarmen. Und die ausgerissenen Fingernägel.
»Oh, Corinne«, flüstere ich und meine Tränen fallen auf ihre Stirn. »Oh, nein.«
»Bleib bei uns, mein Mädchen«, bittet Mistress Coyle, aber ich weiß nicht, ob sie mich oder Corinne meint.
»Und Thea?«, fragt Mistress Lawson, ohne aufzuschauen.
Mistress Coyle schüttelt den Kopf.
»Ist Thea tot?«, frage ich.
»Sie und Mistress Waggoner«, antwortet Mistress Coyle. Erst jetzt bemerke ich ihr rauchgeschwärztes Gesicht und die schlimmen roten Brandwunden auf ihrer Stirn. »Und noch
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