Das dunkle Paradies
Rankgerüste der Kälte. Dies alles, dazu noch der Himmel, der immer düsterer wird, gibt einem das Gefühl, die Stadt habe Hunger.
Und sie hat wirklich Hunger. Die Armee ist im Spätherbst einmarschiert, damals waren die Lebensmittellager voll, aber jetzt gibt es niemanden mehr in den umliegenden Siedlungen, der mit den Waren in die Stadt kommt und sie verkauft, und die Antwort bombt weiter und plündert die Vorratslager. In einer einzigen Nacht haben sie ein ganzes Lagerhaus mit Weizen ausgeraubt, so schnell und so vollständig, dass kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass es Leute in der Stadt und auch in der Armee gibt, die ihnen helfen.
Und das ist schlecht für die Stadt und für die Armee. Ganz schlecht.
Vor zwei Wochen wurde die Ausgangssperre verschärft und letzte Woche wieder, jetzt darf niemand mehr nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße sein, ausgenommen ein paar Wachleute. Der Platz vor der Kathedrale ist zu einem Platz für Freudenfeuer geworden, auf dem man Bücher verbrennt, Worthinterlassenschaften derer, die der Antwort geholfen haben, ebenso wie ein Bündel Uniformen der Heilerinnen, an dem Tag, als der Bürgermeister das letzte Haus der Heilung schließen ließ. So gut wie niemand mehr nimmt jetzt noch die Arznei, ausgenommen die engsten Vertrauten des Bürgermeisters, Mr Morgan zum Beispiel oder Mr O’Hare, Mr Tate und Mr Hammar, Leute aus dem alten Prentisstown, die seit Jahren seine Weggenossen sind. Sie kriegen das Zeug aus alter Treue und Verbundenheit, nehme ich an.
Davy und ich haben die Arznei nie bekommen, also konnte er sie uns auch nicht wegnehmen.
»Vielleicht ist das ja die versprochene Belohnung«, überlegt Davy, während wir nach Hause reiten. »Vielleicht holt er etwas von dem Zeug aus dem Keller, damit wir endlich wissen, wie das ist.«
Unsere Belohnung. Wir.
Ich streichle mit der Hand über Angharrads Flanke und fühle die Kälte auf ihrem Fell. »Gleich sind wir zu Hause, Mädchen«, flüstere ich ihr zwischen die Ohren. »Im schönen warmen Stall.«
Warm , denkt sie. Menschenfohlen .
»Angharrad«, antworte ich ihr.
Pferde sind keine Streicheltiere, sie spielen oft verrückt, aber ich habe herausgefunden: Wenn man sie nur richtig behandelt, dann vertrauen sie einem.
Menschenfohlen , denkt sie wieder, und es klingt, als gehörte ich zu ihrer Herde.
»Vielleicht kriegen wir Frauen zur Belohnung!«, ruft Davy plötzlich. »Ja! Vielleicht schickt er uns ein paar Frauen und dann wird endlich ein richtiger Mann aus dir.«
»Halt die Klappe«, sage ich, aber diesmal prügeln wir uns nicht. Wenn ich es mir recht überlege, haben wir uns schon ziemlich lange nicht geprügelt.
Wir haben uns schlicht und einfach aneinander gewöhnt, denke ich.
Frauen bekommen wir kaum noch zu sehen. Als der Sendeturm in die Luft flog, wurden sie alle unter Hausarrest gestellt, außer denen, die auf den Feldern arbeiten und die unter strenger Bewachung die Äcker für die neue Aussaat vorbereiten müssen. Höchstens einmal in der Woche dürfen ihre Männer, Söhne und Väter sie noch besuchen.
Es gehen Gerüchte um über Soldaten und Frauen, Gerüchte, dass Soldaten sich nachts in die Schlafräume schleichen, Gerüchte über schreckliche Sachen, die dann passieren, und niemand wird dafür bestraft.
Gar nicht zu reden von den Frauen in den Gefängnissen. Die Gefängnisse habe ich nur vom Turm der Kathedrale aus gesehen, eine Ansammlung umgebauter Häuser weit draußen im Westen der Stadt, nahe am Wasserfall. Wer weiß, was dort vor sich geht? Sie sind weit weg, keiner sieht sie, nur die, die sie bewachen.
Sie sind wie die Spackle.
»Himmel noch mal, Todd«, sagt Davy, »was machst du ständig für einen Radau beim Denken.«
Ich habe es mir angewöhnt, auf das dumme Gerede von Davy gar nicht mehr zu hören. Ausgenommen heute. Heute hat er mich Todd genannt.
Wir stellen unsere Pferde im Stall neben der Kathedrale ab. Davy begleitet mich bis hinein, obwohl ich eigentlich keine Bewachung mehr brauche.
Wo sollte ich schon hingehen?
Ich gehe durch das Hauptportal und höre jemanden rufen: »Todd?«
Der Bürgermeister wartet schon auf mich.
»Ja, Sir«, antworte ich.
»Immer höflich«, lächelt er und kommt auf mich zu, seine Stiefelabsätze hallen auf dem Marmorboden. »Du machst einen viel ruhigeren Eindruck auf mich in der letzten Zeit.« Er bleibt einen Meter vor mir stehen. »Hast du das Mittel probiert?«
Was?
»Welches Mittel?«, frage ich.
Er seufzt leise. Und
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