Das dunkle Paradies
andere.« Ihre Lippen werden schmal. »Aber wir haben auch ein paar von denen erwischt.«
»Komm schon, mein Mädchen«, redet Mistress Lawson auf Corinne ein, die noch immer ohne Bewusstsein ist. »Du hast dich noch nie unterkriegen lassen. Gib nicht auf.«
»Halt das mal«, bittet Mistress Coyle und drückt mir einen Beutel mit Flüssigkeit in die Hand, von dem aus ein Schlauch zu einer Injektionsnadel führt, die in Corinnes Arm steckt. Ich nehme den Beutel in eine Hand, mit der anderen stütze ich Corinnes Kopf, der in meinem Schoß liegt.
»Schaut euch das an«, sagt Mistress Lawson und entfernt einen Stofffetzen, der an Corinnes Seite festklebt. Ein entsetzlicher Geruch steigt uns in die Nase.
Aber der ekelerregende Gestank ist nicht das Schlimmste. Am schlimmsten ist das, was er zu bedeuten hat.
»Wundbrand«, sagt Mistress Coyle mit tonloser Stimme. Die Entzündung ist schon viel zu weit fortgeschritten, das Gewebe bereits abgestorben. Der Wundbrand zehrt sie bei lebendigem Leibe auf. Corinne hat mir die Anzeichen selbst erklärt, ich wünschte, ich würde mich nicht daran erinnern.
»Sie haben ihr, verdammt noch mal, keinerlei medizinische Versorgung gegeben«, knurrt Mistress Lawson. Sie steht auf und läuft in die Höhle, um die wirksamste Medizin zu holen, die wir haben.
»Komm schon, mein störrisches Mädchen«, sagt Mistress Coyle leise und streichelt Corinnes Stirn.
»Ihr seid so lange dort geblieben, bis Ihr sie gefunden habt«, sage ich. »Deshalb seid Ihr als Letzte gekommen.«
»Sie hat sich niemals unterkriegen lassen«, sagt Mistress Coyle, ihre Stimme klingt rau, und das nicht nur wegen des Rauchs. »Egal, was sie ihr angetan haben.«
Wir blicken in Corinnes Gesicht, ihre Augen sind geschlossen, ihr Mund steht offen und ihr Atem wird schwächer.
Mistress Coyle hat Recht, Corinne würde sich niemals unterkriegen lassen, würde niemals Namen oder andere wichtige Informationen preisgeben, würde jede Tortur auf sich nehmen, nur damit andere Mütter, andere Töchter nicht das Gleiche erdulden müssen wie sie.
»Die Entzündung«, sage ich heiser, »dieser Geruch, das heißt doch …«
Aber Mistress Coyle beißt sich nur auf die Lippe und schüttelt den Kopf.
»Oh, Corinne«, sage ich. »Bitte nicht.«
Und in diesem Moment, während ich sie festhalte, während sie in meinem Schoß liegt, dreht sie mir ihr Gesicht zu …
… und stirbt.
Sie stirbt lautlos. Kein Geräusch, kein Kampf, kein Aufbäumen, nichts von alledem. Sie wird einfach still, es ist eine ganz besondere Stille, eine Stille, von der man, wenn man sie hört, sofort weiß, dass sie ewig ist, eine Stille, die jeden Laut um sich herum erstickt, eine Stille, die den Lärm der Welt einfach ausknipst.
Das Einzige, was ich hören kann, ist mein eigener Atem, er ist feucht und schwer, und ich habe das Gefühl, niemals wieder glücklich sein zu können. In dieser Stille, in der ich nur meinen Atem höre, blicke ich den Abhang hinunter, und ich sehe die anderen Verletzten, sehe ihre offenen Münder, aus denen Schmerzensschreie kommen, sehe ihre ausdruckslosen Augen, die auch jetzt noch, nach ihrer Rettung, das Schreckliche sehen. Ich sehe Mistress Lawson, die mit Medikamenten zu uns gelaufen kommt, zu spät, viel zu spät. Ich sehe Lee, der umherirrt und nach seiner Mutter und seiner Schwester ruft und der in all dem Chaos noch immer nicht glauben will, dass sie nicht da sind.
Und ich denke an den Bürgermeister, der in seiner Kathedrale sitzt, Versprechungen macht und Lügen auftischt.
(Ich denke an Todd, der sich in der Gewalt des Bürgermeisters befindet.)
Ich blicke zu Corinne in meinem Schoß, Corinne, die mich nie gemocht hat, nie, und die trotzdem ihr Leben für mich gegeben hat.
Wir haben die Wahl, was aus uns wird.
Als ich wieder zu Mistress Coyle aufschaue, funkelt alles, weil meine Augen feucht sind, und die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne sind wie ein Farbstreif, der sich über den Himmel zieht.
Aber ich sehe sie deutlich genug.
Ich beiße die Zähne zusammen und meine Stimme ist so zäh wie Lehm. »Ich bin bereit«, sage ich. »Ich tue alles, was Ihr wollt.«
26
Die Antwort
[TODD]
»Oh Gott«, sagt Bürgermeister Ledger immer wieder leise vor sich hin. »Oh Gott.«
»Was regst du dich so auf?«, blaffe ich ihn schließlich an.
Heute Morgen wurde die Tür nicht wie üblich aufgeschlossen. Der Vormittag kam und verging, man hat anscheinend völlig vergessen, dass wir noch da sind. Draußen in der
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