Das dunkle Universum 3 - Im Sog der Zeit
vorfand. Und dann lag sie da, in der tiefen Nacht, ein bezauberndes kleines Mädchen, das seinen Flauschebär umklammerte, während es schlief, ungestört von finsteren Träumen.
Edeard verlangsamte seine Reise durch den Erinnerungsstrom und bewegte sich dann wieder vorwärts. Es war lange nach Mitternacht, als in dem fast lichtlosen Kinderzimmer die Gestalt materialisierte. Ein Mann, in einen dunklen Umhang gehüllt, der über dem Bett aufragend seine Tarnung aufhob.
Edeard kannte ihn nicht, doch die Gesichtszüge waren ihm vage vertraut; hätte man ihn danach gefragt, er hätte gesagt, dass der Entführer mit Tannarl verwandt war – einem von Ranalees unzähligen Cousins, vielleicht. Und sein Umhang war teuer, ebenso wie die Stiefel. Nein, das hier war kein gewöhnlicher Bandenleutnant. Der Mann zog ein Stück Stoff aus seiner Tasche und träufelte etwas Flüssigkeit aus einer kleinen, braunen Flasche darauf. Dann presste er den Stoff fest auf Mirnathas Gesicht. Sie wehrte sich kurz, strampelte mit Händen und Beinen. Edeard ballte die Fäuste, wollte den Entführer zermalmen, ihn leiden lassen, bevor er starb.
Eine tief bewusstlose Mirnatha wurde aus ihrem Bettchen gehoben. Der Flauschebär fiel zu Boden. Dann verhüllte die Tarnung des Mannes sie beide. Eine Sekunde später öffnete und schloss sich wie von Zauberhand die Tür.
»Oh Herrin«, rief Edeard entmutigt aus. Ganz gleich, wie oft er auch in die Erinnerung eintauchte, das Haus konnte den Entführer unter seiner Tarnung nicht sehen. Er hielt den Augenblick, in dem der Entführer das Kind aus seinem Bett hob, fest, sah alles so klar vor sich, als würde er direkt neben ihnen stehen.
Es muss eine andere Möglichkeit geben, wie sich das Haus an ihn erinnern kann. Obwohl Edeard nicht sehr zuversichtlich war. Er und sein Trupp hatten wochenlang herumexperimentiert, um herauszufinden, ob Tarnung irgendeinen Schwachpunkt besaß, ob es eine Methode gab, etwas durch sie hindurch wahrzunehmen. Bis jetzt hatten sie noch keine entdeckt. Wie es schien, war Akeems letzte Gabe ohne einen einzigen Makel.
Jetzt, während er den Entführer musterte, versuchte er verzweifelt, auf irgendetwas zu kommen, das ihm vielleicht die Position des Mannes zu verraten vermochte. Der Spürhund im House of Blue Petals hatte damals seine Witterung aufgenommen, aber die Stadt konnte nicht riechen. Was war mit der Luft, die sich bewegt hatte, als er die Treppe hinabging? Nein, es gab keine Erinnerung an etwas, das derartig schwach war.
Als sie hochgehoben wurde, schaute er in Mirnathas Gesicht. Es war so blass, ihr Haar schlaff herabhängend. Die Züge des Entführers verzerrten sich leicht, als er das Gewicht des Kindes auf seine Schultern nahm.
»Gewicht!«, rief Edeard freudig auf. Und er lag richtig. Der Boden erinnerte sich an das Gewicht, an jeden einzelnen Tritt. Jetzt, da er sich durch das gewaltige Meer von Erinnerungen des Herrenhauses bewegte, konzentrierte er sich allein auf die Empfindung von Gewicht. In seinem Geist konnte er den Gang vor dem Kinderzimmer visualisieren; sein Boden ein einfaches weißes Band mit blauen Vertiefungen entlang seines Rands, dort, wo die teuren antiken Tische und Stühle standen. Da tauchte ein schwerer, rötlich brauner Abdruck vor Mirnathas Kinderzimmertür auf. Und noch einer. Die Spur setzte sich den Gang entlang und bis zum Haupttreppenhaus fort. Der Entführer ging die Wendeltreppe hinab –
Neugierig sah der Trupp Edeard an, als dieser aus dem Kinderzimmer kam. Dass er lächelte, erschien ihnen irgendwie unpassend.
»Was zum Honious hast du da drin gemacht?«, fragte Dinlay. »Wir hatten alle Hände voll zu tun, die Familie draußen zu halten. Und Julan lässt ausrichten, dass das Lösegeld bereitliegt. Die Flagge flattert schon über dem Orchard-Palast. Man hat eine berittene Milizeskorte aufgestellt, um dich sicher aus der Stadt zu geleiten. Du wirst ein paar Ge-Pferde brauchen, um so viel Gold zu transportieren.«
Edeard blickte zu dem Kristalldach des Gangs hinauf. Die Sonne stand fast im Zenit. Das übliche Longtalk-Gemurmel von draußen klang gedämpft; Makkathrans Bürger waren wegen der Entführung erzürnt, ihre Sorge und ihr Hass vereinten sich zu einem mürrischen Groll. Dies war nicht das glückliche Fest des Geleits, das sie sich wünschten.
Er hatte keine Ahnung gehabt, dass er so lange gebraucht hatte, die Erinnerungen des Herrenhauses zu durchforsten. Aber es spielte keine Rolle, ebenso wenig wie das
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