Das dunkle Volk: Eishauch: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Leben: Wenn wir automatisch angreifen, wer schwächer ist als wir, dann verpassen wir großartige Gelegenheiten. Das ist etwas, das die meisten Cambyra-Feen lernen müssen. Sie sollten nur jagen, wenn es notwendig ist. Was kannst du noch von ihm lernen, Kind?«
Ich atmete konzentriert aus und dachte einen Moment nach. »Durchhalten, auch wenn die Chancen nicht gut zu stehen scheinen. Sich an Dingen zu erfreuen, die da sind. Auch das Unmögliche zu versuchen. Sich emporzuschwingen, auch wenn es Mühe macht.«
»Sehr gut.« Sie zuckte mit dem Finger, und der Vogel stob davon.
Ich folgte ihm mit meinen Blick, als er in der Ferne in die Luft stieg.
Ein träger Luftzug wehte vorbei, und ich tastete mich in den Windschatten, um zu lauschen. Die Geräusche des vergehenden Sommers mischten sich mit dem Flüstern der Blätter, die sich bald verfärben würden, und in der Ferne drohte der Rhythmus der winterlichen Trommeln. Und dann begriff ich. Ich wandte mich zu Lainule um.
»Dein Hof schwindet … Myst saugt deinem Reich alle Lebenskraft aus.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Der Gedanke, dass die Fürstin der Verwüstung nicht nur Lainule und ihr Volk, sondern auch das gesamte Reich zerstören konnte, war erschreckend. Nun war der Winter wirklich eingebrochen, und er hatte hungrige Wölfe mitgebracht.
Lainules Gesicht, faltenfrei und klar, sah plötzlich so traurig aus, dass ich sie am liebsten getröstet hätte.
»Ja, Kind. Sie saugt mich langsam aus. Sie hat meinen Wald an sich gerissen, und auch wenn ich mich überall niederlassen kann, liegt tief darin verborgen der Alissanya – mein Herzstein. Ich hatte keine Zeit mehr, ihn an mich zu nehmen, als sie uns überfielen. In jener Nacht war der Schrecken zu groß, die Schreie zu laut. Meine Wachen kämpften tapfer, doch das Blut lief in Strömen durch den Thronsaal und die Hallen. Selbst wenn wir je unser rechtmäßiges Heim zurückerhalten, wird das Hügelgrab niemals den Pesthauch des Schreckens verlieren, und niemals werde ich die Schreie vergessen. Ich konnte sie nicht aufhalten. Mysts Volk hat sich satt essen können.«
Schaudernd versuchte ich, die Bilder, die sie heraufbeschwor, auszusperren, aber ich konnte sie dennoch sehen; es war, als hätte ich eine Direktleitung zu Lainules Erinnerung. Die Cambyra-Feen, wie sie flohen, schrien, zu entkommen versuchten, als die Schattenjäger über sie hereinbrachen und sie in Stücke zu reißen begannen. In jener Nacht hatte das Ungeheuer wahrlich getobt.
Ich unterdrückte die aufkommende Übelkeit und fragte: »Herzstein? Was ist ein Herzstein? Davon habe ich noch nie gehört.«
Lainule tippte mir unters Kinn und hob meinen Kopf an. »Ich erzähle dir jetzt, was nur wenige außerhalb meines Reichs wissen, aber da dein Vater … da er von meinem Volk ist, werde ich es dir sagen. Und vielleicht bestärkt es dich ja im Kampf gegen Myst, obwohl ich nicht will, dass du Hals über Kopf davonstürmst. Hast du mich verstanden?«
Ich öffnete den Mund, überlegte es mir aber anders. Meine Zunge fühlte sich dick und träge an.
»Ich verlange hierbei einen Eid von dir, Kind. Was immer du mir versprichst, ist bindend.« Ihre Stimme klang feierlich, und ich begriff, dass meine Zustimmung ihr tatsächlich Macht über mich geben würde.
»Ich verspreche, dass ich nichts Überstürztes tun werde«, flüsterte ich.
Sie nickte. »Ein Herzstein ist wirklich ein Stück vom Herzen einer Feenkönigin. Wenn wir den Thron besteigen, tritt während des Rituals ein Teil unseres Herzens aus unserem Körper heraus und wird in einem Edelstein eingeschlossen. Dieser Stein wird dann irgendwo in unserem Reich tief in der Erde verborgen. Das sorgt für die Sicherheit unseres Landes, und es ermöglicht uns, unsere Gefilde ins Reich der Sterblichen zu verlegen oder auch wieder daraus zu entfernen. Dadurch herrscht bei uns ein ewiger Sommer, und dadurch bleibt das Reich der Meereskönigin für immer und ewig überspült. Jede Feenkönigin hat einen.«
Jede Feenkönigin? Ich wusste, dass es ein paar gab, aber ich hatte keine Ahnung, um wie viele es sich handelte. »Selbst Myst?«
Lainule zuckte mit den Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Es liegt nahe, da sie den Winter mit sich führt, aber vielleicht ist auch das Ritual pervertiert worden; sie hat den Thron erst bestiegen, nachdem sie verwandelt wurde. Vorher ist sie keine Königin gewesen.«
»Und wenn Ihr den Herzstein verliert?«
Sie schauderte. Plötzlich war sie blass
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