Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)
locker bleiben musste, um beim anderen keine panische Reaktion auszulösen. Grieve mochte kein Junkie sein, aber ich erkannte die Angespanntheit in seiner Stimme. Er balancierte auf einem schmalen Grat, und ich wollte nicht der Grund dafür sein, dass er das Gleichgewicht verlor.
Also zwang ich mich zur Ruhe. Wehrte ich mich, war ich Beute. Gehorchte ich, kam er vielleicht wieder zur Besinnung. Ich schloss die Augen und beschwor den Wind herauf, um mir Kraft und Rückendeckung zu geben und meine Angst zu lindern. Und als eine kühle Brise über meine Haut strich, normalisierte sich mein Puls, und mein Herz kam zur Ruhe.
Grieve lockerte seine Umarmung, doch das sehnsüchtige Ziehen, das von meinem Wolfs-Tattoo ausging, ließ nicht nach.
Ich wich stolpernd zurück, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Man durfte einem Raubtier niemals den Rücken zukehren. Ein merkwürdiges kleines Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Zunge schoss hervor, um sich die Finger zu lecken.
»Ich kann deinen Schweiß schmecken«, sagte er, während er mich unverwandt ansah. »Ich kann dich riechen. Du willst mich noch immer. Versuch nicht einmal, es abzustreiten.«
Stumm starrte ich ihn an. Er wusste es also. Einerseits gefiel mir nicht, dass er von meinen Gefühlen für ihn wusste, weil er dadurch am längeren Hebel saß. Andererseits hätte ich mich am liebsten wieder in seine Arme geworfen.
»Halt Abstand. Tu nichts, was du nachher bereuen könntest.«
Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Reue? Ich kenne keine Reue. Nicht mehr.« Aber etwas in seiner Stimme verriet mir, dass er log. Oder sich zumindest selbst etwas vorzumachen versuchte.
»Ich hatte fast vergessen, dass du dich in einen Wolf verwandeln kannst«, sagte ich. Was nicht stimmte, aber mir fiel nicht ein, was ich sonst hätte sagen können, um die Spannung zu lösen und uns wieder in sichere Gefilde zu steuern.
»Ich stamme von den Cambyra-Feen ab, den Gestaltwandlern. Es scheint eine ganze Menge zu geben, was du vergessen hast, Cicely Waters. Vor allem, was uns beide betrifft.« Er warf einen Blick zum Haus hinüber. Leo und Rhiannon standen auf der Veranda und beobachteten uns, und ich betete, dass sie keine plötzliche Bewegung machen würden. »Das mit deiner Tante tut mir leid. Aber sie hätte vorsichtiger sein müssen.« Er hatte angefangen, mich langsam zu umkreisen.
Ich drehte mich mit ihm. »Hast du sie geholt? Hast du Heather entführt?«
»Entführung ist ein solch blasses Wort, findest du nicht?« Er blieb stehen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich habe sie nicht geholt, das schwöre ich bei meinem Leben. Aber ich weiß, wer es getan hat. Ich habe dir gesagt, dass Myst die Stadt regiert, und sie bekommt immer, was sie will.«
»Lebt Heather noch?«
»Das ist ein Wissen, über das ich nicht verfüge.«
Ich holte tief Luft. »Vielleicht sollte meine nächste Frage dann lauten: Regiert Myst auch über dich? Gehörst du nun zum Indigo-Hof, Grieve? Was ist aus deiner Treue zur Königin von Schilf und Aue geworden? Ist Lainule noch am Leben?«
Er beugte sich vor und kam mir so nahe, dass ich dachte, er würde mich küssen, doch stattdessen verharrte er wenige Zentimeter vor meinen Lippen. »Treue ist eine noble Haltung, Cicely, aber unglücklicherweise ist sie unter bestimmten Umständen dem Bestreben, am Leben zu bleiben, eher hinderlich.«
Ich verengte die Augen. Er hatte mir noch nichts getan, aber es gab keine Garantie, dass ich auch weiterhin ein solches Glück hatte. Ich machte mich bereit, davonzurennen, falls er beschloss, sich auf mich zu stürzen.
»Ich frage dich noch einmal: Bist du dem Indigo-Hof unterstellt? Bist du … bist du eine Vampirfee? Und was ist mit Lainule geschehen?«
Grieves Augen blitzten auf. Er lachte tief und kehlig.
»Ich stamme von den Cambyra ab. Aber stell dir folgende Frage: Wie, glaubst du, haben wir, die wir zum Adel gehören, wohl unseren Hals gerettet? Die Königin von Schilf und Aue konnte entkommen. Wir wissen nicht, wo sie ist, und dafür bin ich dankbar, denn ich will sie nicht der Gnade Mysts ausgeliefert sehen müssen. Hunderte andere wurden jedoch ermordet. Niedergemetzelt. Ich habe gesehen, wie sie gestorben sind, wie sie in Stücke gerissen wurden, wie ihre Seelen ausgesaugt wurden, obwohl sie bereits vollkommen ausgeblutet waren.«
Er schauderte, und ein Ausdruck der Qual legte sich auf sein Gesicht. »Wenn der Indigo-Hof sich nährt, geschieht es im Blutrausch, Cicely. Wie bei Haien oder
Weitere Kostenlose Bücher