Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)
prangten. Die Fliesen unter unseren Füßen waren frei von diesen Runen, und mir dämmerte, dass ich unwillkürlich auf eine treten musste, sobald ich von diesem Pfad abkam. Die Symbole waren aktiv und wach; nicht auszudenken, welchen Zauber ich damit auslösen würde.
Als wir uns dem Ende der Halle näherten, sah ich, dass sich dort ein vielleicht ein Meter fünfzig hohes Podest erhob. Regina glitt geschmeidig hinauf, wandte sich oben zu mir um und streckte mir die Hand entgegen. Ich packte sie, und sie zog mich mühelos hinauf auf die Plattform. Verblüfft über ihre Kraft, wartete ich stumm darauf, was als Nächstes geschehen würde.
Die Vorhänge am Ende des Podests teilten sich.
»Was zum Geier …« Gerade noch rechtzeitig brach ich ab.
Regina warf mir einen scharfen Blick zu, und ich verstand die Botschaft. Halt verdammt noch mal die Klappe, und tu nur, was ich dir sage.
Dort hinter den Vorhängen saß eine gebeugte und knorrige Gestalt, die vielleicht einst menschlich gewesen war. Es war schwer zu sagen. Das Wesen saß vornübergesunken auf einem Kissen, das noch einmal ein oder eineinhalb Meter über der Plattform schwebte. Die Haut des Orakels war geschwärzt, als habe man sie verbrannt und wie Leder gedörrt, das Haar bestand nur noch aus zottigen Büscheln, Dreadlocks der übelsten Sorte, und die Augen waren glasig und ohne Lider, die weggebrannt zu sein schienen. Crawl trug nichts als ein purpurfarbenes Lendentuch, und seine Rippen stachen so deutlich hervor, dass er wie eine Stockpuppe oder eine Gottesanbeterin wirkte.
Vor ihm blubberte fröhlich ein Springbrunnen, aus dem Blut quoll. Ewige Flammen umringten ihn. Das Feuer flackerte nicht, noch änderte sich die Intensität, und das Blut in der Mitte roch warm, klebrig und frisch.
Regina trat an ein Kissen auf dem Boden neben dem Brunnen, kniete sich nieder und senkte den Kopf. »Großer Vater der Sicht, ich komme ob deiner Weisheit. Crawl, Blutorakel des Karmesin-Hofs, ich ersuche dich um deine Vision.«
Er stieß ein Lachen aus, und es klang, als fahre der Wind durch getrocknete Maisblätter, und ich roch Verfall und Staub und den Moder einer Gruft. »Regina, Crawls Liebling. Das Blutorakel erkennt dich. Steh auf und frag, reizende blutige Tochter, und biete Bezahlung für den Dienst des Orakels.«
Sie erhob sich, und ihr Kleid strich über den Boden. Sie trug ein blutrotes Lederbustier und einen langen, schwarzen Chiffonrock. Nun schob sie den Rock an der Seite, an der er bis zum Oberschenkel geschlitzt war, etwas hoch und zog einen goldenen Dolch hervor. Sie wandte sich um und winkte mich zu sich.
»Moment mal, Sie wollen mich doch damit nicht etwa aufschlitzen?« Ich hatte mich still verhalten, solange es möglich war, aber das hier gefiel mir gar nicht, und es schien schlimmer zu werden, je länger sich der Abend hinzog.
»Du wirst dem Orakel eine kleine Spende für seine Dienste geben. Und zwar klaglos, verstanden?« Sie beugte sich vor, und ihre Lippen strichen über meine, so seidig glatt, so einladend. Ich sog tief die Luft ein, als ihre Zunge in meinen Mund drang, nur kurz, gerade ausreichend, um meine Begierde zu wecken. Ich wollte mich losmachen, aber sie hielt mich fest in ihren Armen.
»Tu, was ich sage«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Wenn du dich weigerst, kommt er von seinem Thron und reißt dir das Fleisch bis auf die Knochen herunter. Crawl ist älter als fast jeder existierende Vampir, und du solltest ihn besser mit einem Vierteltässchen Blut besänftigen. Ich versuche dein Leben zu retten.«
Ihre Stimme schnitt scharf durch den Dunst der Lust, den ihr Kuss ausgelöst hatte, und ich nickte zitternd. Sie wich zurück und hielt den Dolch hoch. »Gib mir deine Hand, Kind.«
Ich hielt ihr, noch stärker zitternd, meine Hand hin und betete zu jedem Gott, der vielleicht gerade zuhörte, dass sie sich nicht gegen mich wenden und mich in Streifen schneiden würde. Aber sie hielt die Klinge über meine Handinnenfläche und zog sie mit einer raschen Bewegung über den Handballen. Das Messer war ultrascharf, und augenblicklich trat ein dünner Streifen Blut aus der Wunde.
Crawl beugte sich vor und sah mit leuchtenden Augen zu, wie das Blut aus meiner Hand quoll. Nur mühsam gelang es mir, meine Angst niederzukämpfen – ich musste verrückt sein, dass ich mich hatte hierherführen lassen. Regina zog mich zum Brunnen und wedelte mit der Hand über zwei Flammen, die sofort erstarben. Dann hielt sie meine Hand über den
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