Das Echo der Flüsterer
Facette lag, nicht sehen, aber offenbar hielt dieses Tor nur das Licht fern. Ein Mensch, ein Tier, ja selbst der Geruch des Waldes konnte es ohne Schwierigkeiten passieren.
Je länger Jonas den dunklen Wald betrachtete, desto intensiver wurde in ihm das Gefühl des Verlorenseins. Er war zwar dem Spiegellabyrinth entkommen, aber was hatte er dadurch gewonnen, wenn er nun in diesem Wald hier herumirrte?
Trojans Kopf fuhr plötzlich in die Höhe. Jonas lauschte. Irgendetwas musste das Schelpin erschreckt haben. Das Tier stand bewegungslos im Farn, einen Fuß angewinkelt in der Luft, nur die Schnauze zitterte leicht.
Jonas’ Augen suchten die Schatten zwischen den gewaltigen Baumstämmen ab. Er hatte mit einem Mal das Gefühl, beobachtet zu werden, aber er wusste nicht, von wem oder vielmehr – von was. Immerhin war er ja mit der Natur vertraut. Ein Großteil der Lebewesen in einem Wald erwachte erst mit Anbruch der Nacht. Doch hier fühlte er etwas Fremdes. Es war unheimlich. Er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, die unsichtbaren Augen, die jeder seiner Bewegungen zu folgen schienen, gehörten weder einem Tier noch einem Angehörigen des Kleinen Volkes.
»Komm, Trojan«, sagte er zu seinem Schelpin. »Hier ist es mir zu ungemütlich. Lass uns nach einer anderen Stelle suchen, wo wir unser Nachtlager aufschlagen können.«
Er schwang sich auf Trojans Rücken und schnalzte mit der Zunge. Das Schelpin setzte sich gehorsam in Bewegung.
Eigentlich hatte Jonas ja die Nacht bei der Facette verbringen wollen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass seine Freunde dort auftauchten. Aber je länger er darüber nachdachte, desto unbegründeter erschien ihm diese Hoffnung. Er konnte bereits in einem ganz anderen Teil Azons sein! Wenn Darina und die anderen einen »normalen« Weg aus dem Spiegellabyrinth gefunden hatten, dann würde er ewig bei den Findlingen auf sie warten können.
Außerdem war das Gefühl des Beobachtetseins unerträglich für ihn. Während er sich immer weiter von dem Facettentor entfernte, grübelte er darüber nach, was er jetzt tun sollte.
Dabei fiel ihm nur eines ein: Er musste Keldins Nachkommen finden.
Darina hatte erzählt, dass der sagenhafte Schmied Keldin einst mit seinen Getreuen in das Zwieland geflohen war. Später sollten die Nachkommen dieser Bonkas hier sogar eine Stadt errichtet haben. Wenn es ihm gelänge, diese Keldinianer zu finden, dann gäbe es vielleicht doch noch eine Hoffnung für Azon. Er würde ihnen von den boshaften Plänen der Malkits berichten, und vielleicht waren die Bewohner des Zwielandes ja sogar im Besitz des letzten von Keldins Spiegeln.
Allmählich gewann Jonas sein Selbstvertrauen zurück. Er blickte zum Himmel empor. In einer halben Stunde würde es völlig finster sein. Er wollte so weit wie möglich von dem unangenehmen Ort beim Facettentor entfernt sein, wenn er in seinen Schlafsack kroch.
Wenig später traf er auf einen Bach. Das Gewässer gurgelte so munter durch den Wald, dass Jonas für einige Momente die unsichtbaren Augen vergaß, die er noch immer auf sich ruhen glaubte. Er trank von dem kühlen Nass, bis sich sein Bauch angenehm prall anfühlte. Auch Trojan schlapperte gierig aus dem Bach. Zu seiner Freude entdeckte Jonas noch ein paar Sträucher mit großen blauen Beeren und zupfte schnell einige der Früchte in sein Taschentuch hinein. Nachdem er seine Wasserflasche gefüllt hatte, setzte er den Ritt fort.
Während der Junge genüsslich die süßen Früchte aß, musterte er argwöhnisch die vorbeiziehenden Äste. Sie wuchsen aus Stämmen, gewaltig wie die von Mammutbäumen, aber die Zweige hatten keine Nadeln, sondern Blätter. Auch reichten sie wesentlich tiefer zum Boden herab, als es bei den Küstensequoias der Fall war, die Jonas aus Büchern und Magazinen kannte. Mehrmals hob er im Vorbeireiten die Hand, um die Blätter zwischen den Fingern hindurchstreichen zu lassen. Sie waren an der Unterseite stark gerippt und besaßen einen weichen Flaum.
»Ihr seid wirklich erstaunliche Wesen!«, sagte Jonas laut. In seiner Stimme schwang Ehrfurcht und Bewunderung. »Wie alt ihr wohl seid?«
Sein Kopf flog herum, als er plötzlich von links ein Kichern zu hören vermeinte. »Ist da wer?«
Niemand antwortete ihm.
Es war wohl nur der Wind, der ihm da einen Streich gespielt hatte. Er kannte das gut: Wenn eine Brise die Äste zweier benachbarter Bäume aneinander schaben ließ, dann konnten schnell die merkwürdigsten Geräusche
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