Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
entstehen.
    Inzwischen war es so dunkel geworden, dass Jonas kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Er ließ sein Schelpin unter einem der Baumriesen anhalten und befreite es von Sattel und Gepäck.
    »Das Abendbrot muss wohl ausfallen«, murmelte er. Zumindest hatten die Beeren seinen größten Hunger gestillt. Als er im Schafsack lag, nahm er noch einen letzten Schluck Wasser, drehte sich in eine bequeme Lage und wartete auf Gevatter Schlaf.
    Hoch über seinem Kopf wiegten sich die Äste sanft im Wind. Die Blätter des Baumriesen klimperten wie ein fernes Glockenspiel. Während Jonas von dem Gutenachtlied in den Schlaf gelullt wurde, blickten uralte Augen auf ihn herab.
    Wer mag er wohl sein?, fragte ein Chor von Stimmen, die weder Mensch noch Bonka verstehen konnte.
    Stellt euch nicht dümmer, als ihr seid!, antwortete streng ein tiefer Bass.
    Sagt es uns, Merleander, ist es ein Menschenkind?
    Na also, ihr wisst es doch.
    Aber Vater, wie kann ein Mensch zu uns in den Wald kommen? Er wird uns doch nicht etwa schaden wollen?
    Ihr benehmt euch wie junge Keimlinge, wies die strenge alte Stimme die anderen zurecht. Ihr habt doch gesehen, was er mit der Blume getan hat.
    Und wenn er ein enorm raffinierter Spion ist? Vielleicht hat er eine Säge dabei…
    Ich muss die letzten hundert Jahre in den Wind gesprochen haben, seufzte der Alte. Wir werden feststellen, ob das Menschenkind eine Gefahr für uns darstellt. Solange es schläft, kann es uns sowieso nichts antun. Und ob es jemals wieder erwachen wird, das liegt ganz bei uns.
    Langsam wie eine Schlange erhob sich zu Jonas’ Füßen ein armdicker Wurzelstrang aus der weichen Erde. Er legte sich um den Schlafsack und zog sich behutsam zusammen. Jonas stöhnte nur einmal kurz im Schlaf auf, als die hölzerne Fessel seine Fußgelenke fest umschlang.
    Seht ihr, jetzt kann er uns nicht mehr entkommen, sagte Merle ander zufrieden.
    Und was werdet Ihr jetzt mit ihm anfangen, Vater?, fragte eine piepsige Stimme ganz aus der Nähe.
    Oh Kijumina und all ihr anderen! Was habt ihr junges Gemüse nur während der vielen Jahrhunderte gelernt? Wir werden ihn natürlich fragen, warum er hier ist. Kann sich denn keiner mehr erinnern, was ich euch beigebracht habe?
    Ich… ich weiß es, meldete sich eifrig ein anderer, gerade erst dreihundert Jahre alter Spross Merleanders.
    Nubiman, dacht ich’s mir doch, dass du der Einzige unter deinen Geschwistern bist, der nicht alles vergessen hat. Erkläre den anderen, was ich vorhabe.
    »Wenn du wissen willst, wer jemand ist, musst du ihn fragen, woher er kommt und wohin er geht«, zitierte Nubiman seinen Vater.
    Alter Streber!’, warf Kijumina ein.
    Blöde Primel, konterte Nubiman.
    Ruhe jetzt!, forderte Merleander. Ich muss mich konzentrieren. Das Menschenkind darf nicht erwachen, während es uns seine Geschichte erzählt. Wir wollen schließlich keine Angsttriebe zu hören bekommen. Nur was aus den Tiefen seiner Träume emporwächst, ist der Spross der Wahrheit.
    Es folgte eine Stunde des Schweigens, für ein uraltes Wesen wie Merleander war es nur ein Augenblick der Konzentration.
    Trojans Kopf fuhr nach oben. Das Schelpin hatte ein seltsames Rauschen in den Wipfeln vernommen. Hätte es Merleanders beschwörenden Ton verstanden, wäre es vielleicht aufgesprungen und hätte Alarm geschlagen. So aber legte es wieder die Schnauze auf die Pfoten und döste weiter.
    Merleanders Stimme hatte sich verändert. Wie süßer Honig sickerte sie zäh und doch unaufhaltsam in Jonas’ Geist hinab.
    Dort erschuf sie ein Bild, einen Traum, ein Gespräch, das nur einem Zweck diente: zu bestimmen, ob Jonas jemals wieder erwachen durfte.

 
    JONAS’ TRAUM
     
     
     
    Jonas schaute in das Gesicht eines alten Mannes. Woher er gekommen war und wie er hieß, das wusste er nicht. Der Alte lächelte ihn an. Sein Antlitz war so braun, als hätte es schon jahrhundertelang in die Sonne geblickt. Die Haut hatte tiefe Furchen wie die Rinde eines alten Baumes. Der Greis trug ein Gewand aus grober dunkelbrauner Wolle. Dünne Beine und knochige Füße ragten darunter hervor. Unvermittelt erhob sich ein knorriger Zeigefinger vor Jonas’ Gesicht und der Alte fragte: »Ich habe dich noch nie hier gesehen. Sage mir, wer du bist.«
    »Mein Name ist Jonas, Jonas McKenelley.«
    »Und was machst du hier?«
    »Eigentlich wollte ich meine Eltern suchen.«
    »Deine Eltern. So, so. Warum bist du denn nicht bei ihnen?«
    »Alle sagen, sie seien gestorben.«
    »Deine Antwort

Weitere Kostenlose Bücher