Das Echo der Flüsterer
verwundert mich, Jonas McKenelley.«
»Alle sagen, sie seien gestorben«, wiederholte Jonas mit anderer Betonung. »Aber ich habe noch nie etwas geglaubt, nur weil viele davon sprechen.«
Der Alte nickte nachdenklich. »Komm.« Er deutete auf einen großen glatten Stein, den Jonas vorher noch gar nicht bemerkt hatte. »Setzen wir uns und du erzählst mir, warum du so bist, wie du bist. Weshalb neigst du deine Krone nicht wie alle anderen vor dem Wind?«
»Wie bitte?«
»Ich meine, warum ist ein junger Sprössling wie du so anders als seine Altersgenossen? Ich kenne nur wenige, die so denken wie du. Aber es gefällt mir! Ich würde gerne erfahren, woher du kommst.«
Jonas dachte einen Moment nach, wie er das erklären sollte. Bisher hatte ihm noch nie jemand diese Frage gestellt. Woher kam er eigentlich?
»Ich bin in ein Land hineingeboren worden, das sich für die bedeutendste Nation der Welt hält, und in eine Zeit, in der sich viele Bürger dieses Landes fragen, warum nur der Rest der Welt diesen Umstand so wenig zu würdigen weiß.«
Jonas hielt kurz inne. Er wunderte sich, woher diese Worte stammten. Sie klangen so wenig nach dem, was er sonst von sich gab. Aber sie entsprachen der Wahrheit.
»Sprich ruhig weiter«, ermunterte ihn der Alte lächelnd.
»Die Vereinigten Staaten von Amerika sind aus den beiden großen Kriegen dieses Jahrhunderts als strahlende Sieger hervorgegangen«, setzte Jonas seine Geschichte fort. »Für viele ihrer Bürger waren sie ›Gottes eigenes Land‹. Aber irgendetwas schien nicht zu stimmen mit dieser großen Nation.
Ich wurde am 3. Juli 1947 in Florida geboren. Wie mir mein Großvater später erzählte, sprachen die Menschen in diesen ersten Nachkriegsjahren weniger über den endlich herbeigekommenen Frieden als über das Ende des Krieges. Die Menschen schwankten zwischen Reichtum und Angst. Dabei waren die Anzeichen für den zunehmenden Wohlstand doch unübersehbar! Die Umstellung der Rüstungs- auf die Friedensindustrie verlief reibungsloser als noch nach dem Ersten Weltkrieg. Außerdem freuten sich die Waffenhersteller über den nun entfachten Kalten Krieg, der ihre Fabriken weiter in Gang hielt.
Auch der ›Mann auf der Straße‹ freute sich (sofern er einen Job besaß). In den zurückliegenden Jahren hatten viele dieser einfachen Amerikaner ihr Geld, so gut es ging, zusammengehalten (man konnte ja nie wissen, was noch kommen würde). Aber jetzt schien das nicht mehr nötig. Auch die Einkommen stiegen. Man konnte wieder nach Herzenslust kaufen. Und man kaufte! Der Überfluss bekam einen neuen Namen: ›Überschussgesellschaft‹. Das Land schien nach allen Seiten hin regelrecht aufzuquellen wie Hirsebrei aus einem auf dem Herd vergessenen Topf: Die Häuser wurden immer höher, die Autos immer größer, die Straßen immer breiter…
Mehr und mehr Menschen schafften sich auch einen Fernsehapparat an. Inzwischen konnten neun von zehn Familien sich auf diese Weise sagen lassen, was richtig und was falsch war, ein enormer Vorteil, blieben einem dadurch doch die Mühen des angespannten Zuhörens an einem quäkenden Radioempfänger oder gar der Kraftakt des Zeitunglesens erspart. Im Fernsehen gab es Bilder, die jeder verstehen konnte. Die Mühen des Selbstfragens, Selbstentscheidens und vor allem des Selbstdenkens wurden einem von den stets gut gelaunten Männern und Frauen auf der Mattscheibe abgenommen.
Trotz dieser Entwicklungen, die zahlreiche Menschen in meiner frühen Kindheit als einen gewaltigen Fortschritt ansahen, genossen viele ihren neu gewonnenen Wohlstand nicht ohne Sorge oder – was vielleicht noch schlimmer war – in einer Art krampfhaftem Rausch, wie er oft einem baldigen Niedergang vorausgeht. Etlichen saß noch immer das Gespenst der Weltwirtschaftskrise im Nacken, die dem ›Großen Krieg‹ von 1914 bis 1918 gefolgt war.
Nein, die stolze Nation der Vereinigten Staaten von Amerika konnte ihren vordersten Platz in der Welt nicht so recht genießen. Verunsicherung machte sich breit in jenen Jahren, in denen ich bei meinen Großeltern heranwuchs. Die Menschen verdienten mehr Geld – doch die schwarzen Amerikaner nicht so viel wie die Weißen.
Wer nicht wie ich das Glück hatte, als Bürger dieser ›großen Nation‹ das Licht der Welt zu erblicken, urteilte oft ganz anders über den ›American Way of Life‹, jene stolze, ehrenvolle, allein die Erfolgreichen feiernde Lebensweise, die sich doch als Maß aller Dinge für jeden auf diesem Planeten zu
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