Das Echo der Flüsterer
im Wald würden wohl den nächsten Morgen nicht mehr erleben.
Jonas hatte sich vergewissert: Die Würde eines Wolfes war nicht verletzt, wenn er von einem Menschen gestreichelt wurde. So verabschiedete er sich gebührend von jedem Einzelnen der zwölf Graupelze.
Sie schienen ihn tatsächlich in ihr Herz geschlossen zu haben und als er dem einen, der ihm schon vorher aufgefallen war, das Fell kraulte, flüsterte der Jonas zu: »Lebewohl, Menschenkind. Und viel Glück bei deiner Suche!«
Jonas ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Vielleicht sah es Minuq ja nicht gern, wenn einer seiner Brüder vorlaut war.
Auf der Ebene kamen sie dann wesentlich schneller voran. Die Gegend erinnerte Jonas an das Grasland zwischen den Hängenden Bergen und der Farbenstadt, nur dass hier unzählige Säulenwacholder aus den sanften Hügeln schossen und die Landschaft insgesamt einen raueren, wilderen Eindruck machte.
Am späten Nachmittag trafen sie auf das Lager der Gefährten. Die Schelpins dort hatten die Wölfe schon früh gewittert und lautstark Alarm geschlagen.
Sam Chalk begrüßte Jonas wie seinen Sohn. Mit einem nervösen Seitenblick auf die zwei riesigen Wölfe sagte er: »Du hast wirklich einen extravaganten Geschmack, was die Wahl deiner Freunde betrifft.«
Jonas sah lächelnd zu Minuq und Talinka hinüber und versicherte dem Piloten: »Keine Angst, die beißen nicht.«
Sam lachte gepresst. »Das sagen die Leute immer, bevor einem ihre Schoßhündchen an den Hosenboden gehen…«
Aus Minuqs Kehle ertönte ein tiefes Grollen, das Sam erschrocken innehalten ließ.
»Meine Freunde sind Wölfe«, erläuterte Jonas lachend, »keine Streichelhunde.«
Sam nickte respektvoll und sagte in Richtung der Graupelze: »Ich werd’s mir merken. Versprochen!«
Lischka und Ximon freuten sich über Jonas’ wohlbehaltene Rückkehr mit der den Flüsterern eigenen Zurückhaltung. Die Nachricht von der Zerstörung des Kristallspiegels wurde von ihnen mit großer Betroffenheit aufgenommen.
»Wir werden heute hier bleiben und erst morgen weiterziehen«, sagte Bergalf und schaute prüfend in Talinkas Richtung. Die Wölfin erwiderte seinen Blick mit der Gelassenheit einer Sphinx. »Gut, dann ist die Sache also beschlossen.«
Bei einem Mahl aus frisch gebackenem Brot, getrockneten Früchten, Käse und Tee erzählte man sich ausführlich »Geschichten«, wie die Bonkas jede Art von Erlebnisbericht nannten. Jonas konnte nicht anders, als die Bewohner Azons wegen ihrer Vorliebe für diese Art des Zeitvertreibs zu bewundern. Er erinnerte sich an einige seiner Klassenkameraden, die fast ihre gesamte Freizeit vor dem Fernsehapparat verbrachten. Und er selbst? Nun ja, auch er war nicht selten in die Sümpfe entwichen, um einer anstrengenden Konversation zu entgehen.
Natürlich diente das Geschichtenerzählen an diesem Abend mehr als nur der Geselligkeit. Es war gewissermaßen der Auftakt zu einer umfangreichen Beratung.
Ximon – dessen Bein es übrigens schon wieder ganz gut ging – brachte noch einmal seine Besorgnis zum Ausdruck, was die mögliche Entwicklung zwischen dem Adler und dem Bären betraf. Darina habe ihm im Kristallrat die Augen geöffnet. Er hatte in den vergangenen zwei Tagen viel über die zurückliegenden Beobachtungen der Flüsterer gesprochen.
»Es ist nicht so, dass wir den Ernst der Lage übersehen hätten.« Er redete, als müsse er sich verteidigen. »Uns war klar, dass es zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zu außerordentlichen Problemen kommen musste, wenn beide ihre unterschiedlichen Ziele weiterverfolgten. Da gab es die Operation Mongoose, mit der die Amerikaner Castros Regierung zu stürzen versuchten, und auf der anderen Seite die Operation Anadyr, deren Ziel Atomraketen auf Kuba zu stationieren vom Adler unweigerlich als Provokation aufgefasst werden musste. Irgendwann – das war uns allen klar – würde der Adler über die Moskitoinsel fliegen und die Raketenstellungen entdecken. Ich selbst habe sogar versucht diese Entwicklung zu beschleunigen, weil ich dadurch wertvolle Zeit zu gewinnen hoffte. Es ist erst ungefähr anderthalb Monate her. Damals flüsterte ich dem US-Senator Kenneth Keating zu, dass es Raketeneinrichtungen auf Kuba gäbe. Keating reagierte auf meinen Rat. Er forderte noch am selben Tag vor dem Senat von Kennedy entschlossenes Handeln und schlug vor, dass die OAS, die Organisation Amerikanischer Staaten, ein Untersuchungsteam nach Kuba entsenden sollte.
Weitere Kostenlose Bücher