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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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erzählt, um Chruschtschows schauspielerisches Talent herauszustellen. Bevor ihr ein Urteil über ihn fällt, solltet ihr noch eine andere Seite dieses wechselhaften Menschenkindes kennen lernen.
    In dem großen Krieg, den die Menschen den Zweiten Weltkrieg nennen, besuchte Nikita Sergejewitsch als Politkommissar verschiedene Fronten. Unter anderem war er auch in Stalingrad, wo ja die entscheidende Wende in dem ›großen vaterländischen Krieg gegen Nazideutschland‹ eingeleitet wurde. Chruschtschow hatte mehr Gräuel gesehen als jeder andere, der heute mit ihm das Land des Bären regiert. Das Kriegserlebnis hat ihn nachhaltig beeinflusst. Stalin vertrat immer die Ansicht, irgendwann werde ein dritter Weltkrieg kommen, eine Entscheidungsschlacht zwischen dem sowjetischen und dem amerikanischen Block. Aber Chruschtschow wies dieses Postulat später zurück. Schließlich ließ er sogar im Oktober 1961 Stalins Leichnam aus dem Lenin-Mausoleum entfernen und in einem tiefen Loch an der Kremlmauer versenken. Ich weiß nicht, ob er wirklich an Geister glaubt, aber diesen Geist, diese Ideen wollte er sich ein für alle Mal vom Hals schaffen. Er kennt sehr genau die schreckliche Macht seiner Waffenkammer. Als 1953 die erste sowjetische Wasserstoffbombe explodierte und er einen Film darüber sah, konnte er mehrere Nächte lang nicht schlafen.«
    »Er ist wirklich ein sehr verwirrender Mensch«, sagte Darina. »Was schlägst du vor, Lischka? Sollen wir Keldins Spiegel einsetzen, um dem Bär die Zähne auszureißen, oder gibt es einen anderen Weg?«
    »Dieser Mann wird nie auf unser Flüstern hören, Darina. Ich glaube allerdings auch nicht, dass Chruschtschow die Raketen wirklich abschießen will. Seine Ideale sind ein anständiges Leben für alle Bedürftigen und Frieden für die Menschen. Er hat einmal gesagt, dass die alte verfaulte kapitalistische Welt dem Untergang geweiht sei und dass eine schöne neue an ihre Stelle treten werde. Vielleicht macht ihn dieser Glaube zu einem Träumer, aber ich denke nicht, dass jemand so spricht, der alles Leben von der Erde auslöschen will.«
    »Du meinst, Chruschtschow möchte die Raketen nur als Druckmittel verwenden, damit die Vereinigten Staaten ihn endlich ernst nehmen und mit ihm verhandeln, stimmt’s?« Die Frage kam von Jonas’ Vater.
    Lischka nickte. »Genau das ist meine Einschätzung. Die Vereinigten Staaten sind an der Haltung des sowjetischen Ministerpräsidenten nicht ganz unschuldig. John Foster Dulles, der ehemalige amerikanische Außenminister, hat jahrelang mit großer Energie daran gearbeitet, den sowjetischen Einfluss zurückzudrängen. Dabei befürwortete er sogar den Einsatz von Atomwaffen. Deshalb ist es auch kein Wunder, wenn Chruschtschow ›die amerikanische Arroganz‹, wie er sie nennt, nicht ausstehen kann. Er hat zwar eingesehen, dass er den Kapitalismus nicht einfach von der Landkarte radieren kann, und ist inzwischen ein eifriger Verfechter einer ›friedlichen Koexistenz‹ zwischen den großen Machtblöcken, aber da dieses Ziel nur über Verhandlungen erreicht werden kann, möchte er selbst gern die Regeln festlegen. Dazu braucht er die Atomraketen in Kuba.«
    »Würde er die Raketen einsetzen, wenn die Vereinigten Staaten den Waffengang eröffneten?«
    Lischka dachte kurz nach. Dann nickte er. »Chruschtschow hat auch seinen Stolz. Eine solche Demütigung könnte er nicht tatenlos hinnehmen.«
    »Somit scheint nur noch ein Weg offen zu stehen, um das Schlimmste zu verhindern: Wir müssen dafür sorgen, dass die Raketenstellungen so lange wie möglich unentdeckt bleiben. Sind sie erst fertig, dann muss Kennedy verhandeln.«
    Es war schon weit nach Mitternacht, als man sich im Großen Rat von Kalvar auf eine Vorgehensweise geeinigt hatte: Robert, Ximon und Lischka sollten am nächsten Morgen den Spiegel auf möglichst viele Personen richten, die mit der gegenwärtigen Situation in den Ländern des Adlers, des Bären und des Moskitos vertraut waren. Vielleicht konnten sie mit dem dadurch gewonnenen Wissen an die ersten Männer der besagten Staaten herantreten oder zumindest einige ihrer wichtigen Ratgeber erreichen.
    Nach einer viel zu kurzen Nacht saßen Jonas, seine Eltern, Sam und die Bonkas wieder im Ratssaal zusammen. Auch Numin, der Sohn des Oberältesten, war dabei. Kraark hockte auf dem Obsidiantisch, direkt neben dem Gestell, das Keldins Spiegel trug. Alle blickten gebannt auf die Kristalltafel.
    »Um den Spiegel auf eine bestimmte Person

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