Das Echo der Flüsterer
glauben, was Robert ihr da vorgelesen hatte. Erst als er sie in den Arm nahm und fest an sich drückte, war sie imstande zu weinen. Der Arzt bot ihr ein Beruhigungsmittel an, aber Sarah lehnte ab. Sie war ruhig – auf eine schreckliche, schwer nachvollziehbare Weise. Nur Robert, der Sarahs Lebensgeschichte kannte, vermochte in groben Zügen zu erfassen, was in seiner Frau vor sich ging. Sie hatte einfach zu viel erlebt, um noch wie andere Menschen trauern zu können.
Aber selbst er hatte keine Vorstellung davon, wie wenig Sarah bereit war die furchtbare Nachricht zu akzeptieren. Sie musste nur nach Hause, dann würde sie ihren Sohn wieder in die Arme schließen können. Daran glaubte sie fest. Weshalb sie so sehr davon überzeugt war, sollte sie erst viel später herausfinden.
Der Befehlshaber des Flotten- und Luftstützpunktes bei Kindley Field schuldete Robert noch einen Gefallen. Doch wahrscheinlich hätte er auch so alles Menschenmögliche getan, um den jungen Eltern in ihrer Notlage beizustehen. Sarah und Robert durften in einer Transportmaschine mitfliegen, welche die Insel St. George noch am Nachmittag desselben Tages in Richtung Cape Hatteras, North Carolina, verlassen würde. Von dort konnten sie dann am nächsten Morgen mit einem anderen Militärflugzeug direkt nach Florida weiterfliegen.
Morgen Mittag, dachte Sarah, morgen Mittag wird sich alles aufklären. Der Text des Telegramms ging ihr wieder durch den Kopf: »heute frueh erhielten wir nachricht von seinem tod«. Warum hatten sich Tom und Rose nur auf diese »Nachricht« verlassen? Warum hatten sie sich nicht selbst vom Zustand ihres Enkels überzeugt? Es musste ein Irrtum sein. Jonas war nicht gestorben. Sie, Sarah, hatte ihn allein gelassen, das stand außer Frage. Aber Jonas war nicht tot. Er lebte. Er musste leben!
Ein Geräusch in ihrem Rücken riss sie aus den quälenden Gedanken.
»Verzeihung, Ma’am, ich muss das Fahrwerk kontrollieren.«
Es war wohl der Kopilot, ein kleiner rundlicher Mann, irgendwie erinnerte er Sarah an einen Bullterrier. Sie nickte mit einem gezwungenen Lächeln und trat zwei Schritte zur Seite. Wo Robert nur blieb?
»Alles in Ordnung, Jack?« Der Kommandant des Transportflugzeugs tauchte mit gesenktem Kopf unter dem Heck hindurch und kam auf seinen Kopiloten zu.
»Soweit ich sehen kann, scheint’s unserer Roly-Poly gut zu gehen. Für sechshundert Meilen sollte sie ihren dicken Hintern schon noch mal vom Boden kriegen.«
»Jack! Wir haben eine Dame unter uns, reiß dich ein bisschen zusammen!«
»Hab ich doch!«, protestierte der Angesprochene. »Meinst du, ich hätte ›Hintern‹ gesagt, wenn…«
»Sei endlich still!«, fiel der Captain ihm schnell ins Wort. Er zog den etwas zu kurz geratenen Kopiloten auf die Seite und redete leise auf ihn ein – Sarah sollte die Auseinandersetzung nicht mitbekommen.
»Willst du, dass ich heute, nachdem wir sechs Jahre gemeinsam Löcher in die Wolken gestanzt haben, noch einmal förmlich zu dir werde? Ich bin immerhin dein Vorgesetzter, vergiss das nicht. Es gibt überhaupt keinen Grund, Mrs. McKenelley mit deiner Schwarzseherei zu verstören.«
»Trotzdem bin ich froh, dass dies mein letzter Flug auf der RY-3 ist. Das Biest ist launisch wie ein Sack Flöhe.«
»Red keinen Unsinn, Jack. Unsere Roly-Poly hat uns bisher immer sicher ans Ziel gebracht. Seit 1939 sind fast zwanzigtausend von diesen Dingern gebaut worden. Hätte man das etwa getan, wenn sie so ›launisch‹ wären, wie du behauptest? Die B-24 hat dem Feind im Krieg mächtig eingeheizt.«
»Nicht nur dem Feind, Dan. Lass uns mal eines klarstellen: Du redest von Bombern, aber das hier ist rein zufällig eine RY-3 Privateer Transport, ein fliegender Packesel. Manche Jungs sagen, das Ding sei eine glatte Fehlkonstruktion. Bei der Royal Air Force haben sie die Schwestern von unserem Dickerchen schon vor zwei Jahren ausgemustert.«
Dan, der Kommandant, bemerkte das besorgte Gesicht der jungen Dame unter der Tragfläche. Der Disput über die Qualitäten der unterschiedlichen B-24-Varianten war ihr offensichtlich nicht entgangen. Mit ein paar schnellen Schritten war er bei Sarah.
»Jack ist ein alter Wichtigtuer. Er zieht nur über unsere Roly-Poly her, weil er seinen Abschied von der Navy längst bereut hat. Jetzt würde er am liebsten wieder zurück, aber man lässt ihn nicht mehr.«
Sarah hörte ein kurzes Auflachen im Rücken des Piloten. »Ich weiß nicht«, sagte sie unsicher zum Kommandanten. »Ist denn
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