Das Echo der Flüsterer
braunhaarigen Jungen, liebte sie ebenfalls. Sie hatte nie einen Bruder gehabt. Auch der Junge kannte dieses schwermütige Gefühl, wenn er als Einzelkind die vielköpfigen Familien in der Nachbarschaft sah. In Lydia hatte er eine Schwester gefunden, die er beschützen und der er tausend Dinge zeigen konnte. So schenkten sie sich gegenseitig einige sonnige Wochen lang jene Vertrautheit, wie sie sonst nur Geschwister besitzen, die immer füreinander da sind.
Der Junge hatte noch nie zuvor jemandem seine »geheimen Plätze« gezeigt, jene stillen Orte, die er selbst so gerne aufsuchte, wenn er ungestört über etwas nachdenken wollte. Aber bei Lydia erschien es ihm als selbstverständlich, dass er auch diese Zufluchtsstätten mit ihr teilte. Das Gebiet westlich von Muddy Creek war durchzogen von einem Netzwerk aus Wasserwegen, in dem sich jeder Fremde unweigerlich verirren musste. Aus dem stillen dunklen Wasser erhoben sich unzählige Inselchen. Die meisten von ihnen hatten nicht einmal Namen. Viele waren nichts weiter als schwimmende Grasteppiche, manche so fest, dass man darauf wie auf einem gespannten Gummituch laufen konnte, andere dagegen trügerische Fallgruben, von denen man sich besser fern hielt. Auf den stabileren Inseln bauten die Alligatoren ihre Nester.
»Wenn das Pflanzenmaterial, aus denen ihre drei bis sechs Fuß hohen Nesthügel gebaut sind, verrottet, entsteht Wärme, die wiederum beim Ausbrüten der Eier hilft. Alligatorenmütter sind ziemlich gescheit und außerdem sehr fürsorglich«, dozierte der Junge eines Morgens im August. Er saß mit Lydia auf dem Himmelsstein, wie die Indianer ihn nannten. Ein Felsen war in dieser Gegend eine absolute Seltenheit und von diesem blau schimmernden Stein erzählten sich die Ureinwohner, er sei eine erstarrte Träne Manitus, die hier vor langer Zeit vom Himmel gefallen sei, als er angesichts der Bosheit der Menschen weinen musste.
Lydia schien kaum auf die Worte des Jungen zu achten. Sie starrte nur auf das dunkle Wasser.
»Sie befeuchten ihre Nester, belüften und bewachen sie und wenn es nötig ist, dann verteidigen sie sie auch«, fuhr er fort. Er wollte sie gerne aus ihrer gedrückten Stimmung reißen.
»Mama hatte es früher auch immer gerne hell und luftig im Haus.«
Die Antwort Lydias klang so traurig, so hoffnungslos, dass der Junge sofort den Grund ihrer Schwermut erkannte. Er glaubte selbst den Schmerz zu spüren, der sie in diesem Moment quälte. Warum hatte er sich auch gerade den Fleiß von Alligatorenmüttern zum Thema wählen müssen! Aber dann kam ihm die Idee, dass Lydia im Augenblick vielleicht gar nichts anderes interessierte. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich über diese inneren Eingebungen, die ihn genau im richtigen Moment die passenden Worte finden ließen.
»Die Krankheit ist schlimmer geworden, stimmt’s?«
Lydia hörte die Besorgnis in seiner Stimme. Er war kein Junge, der Worte des Mitgefühls nur heuchelte. Sie wandte ihm das Gesicht zu und nickte. Eine Träne rollte über ihre Wange. »Mutter muss ins Krankenhaus«, flüsterte sie. »Übermorgen, hat Vater gesagt.«
»Können die Ärzte ihr helfen?«
»Vater meint, sie wird nicht mehr nach Hause kommen.«
Der Junge nahm Lydias Hand und drückte sie. Mehr konnte er im Augenblick sowieso nicht für sie tun.
Vier Wochen später war Astrid Gustavson gestorben.
Die Nachricht kam nicht unerwartet, aber deshalb war sie für Lydia nicht leichter. Ihre Mutter war in ein Krankenhaus nach Miami gebracht worden. Christian Gustavson hatte sich ein Zimmer in einer kleinen Pension genommen. Er wollte immer in ihrer Nähe sein. Als die Großeltern des Jungen ihm anboten, Lydia so lange in ihr geräumiges Haus am Rande von Muddy Creek aufzunehmen, war er erleichtert gewesen.
»Lydia soll eine gute Erinnerung an ihre Mutter zurückbehalten. Ich möchte nicht, dass sie sieht, wie sie sich quält.«
Der Junge hatte Zweifel, ob dies eine glückliche Entscheidung war. Er selbst sehnte sich ja auch nach seinen Eltern, obwohl jeder sie für tot hielt. Alle fragten immer nach dem Sinn, wenn er von seinen Gefühlen sprach. Als wenn die Liebe zuerst nach einem Zweck fragen müsste! Er wusste, was Lydia jetzt brauchte, und versuchte ihr in ihrem Schmerz beizustehen. Sie hoffte noch immer – obwohl ihr niemals die Wahrheit über den Zustand der Mutter verschwiegen worden war.
Dann kam der September 1958. Der Monat hatte etwas Melancholisches an sich. Die feuchte Hitze über den Sümpfen
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