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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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suchen – bevor ihr vielleicht doch noch etwas zustößt…«
    Die letzten Worte waren nur noch leise aus dem Mund des Jungen gekommen. Er wusste natürlich, dass der Sumpf kein Kinderspielplatz war. Lydia kannte die Everglades noch nicht so gut wie er. Es konnte daher durchaus sein, dass sie in ihrer übergroßen Traurigkeit unvorsichtig wurde und sich verletzte oder… An Schlimmeres wagte er gar nicht zu denken.
    Für einen Moment schien es, als hätten seine von Sorge und tiefer Liebe erfüllten Worte die Männer noch einmal aufgerüttelt. In ihren Gesichtern spiegelte sich Betroffenheit. Der Tod eines elfjährigen Mädchens war in einer so kleinen Gemeinde wie Muddy Creek ein schreckliches Ereignis und der Gedanke ein Kind dem sicheren Verhängnis in den Sümpfen zu überlassen war für viele nicht leicht zu ertragen. Aber dann regten sich erneut Zweifel. Köpfe wurden geschüttelt. Widerspruch kam auf.
    »Ich wünschte, es wäre so. Aber wir können für die Kleine nichts mehr tun«, brummte einer, der sich vorsichtshalber im Dunklen hielt.
    »Wenn ihr jetzt noch jemand helfen kann, dann Gott«, hörte man aus einer anderen Ecke, schon etwas lauter.
    Zustimmendes Gemurmel erklang.
    Der Bürgermeister machte mit dem Versuch des Jungen, die Resignation noch einmal zu vertreiben endgültig Schluss. »Geht nach Hause, Leute. Toms Enkel war ihr Freund. Es ist richtig, wenn er sich für die arme Lydia einsetzt. Aber ihr alle wisst, was es bedeutet, auch nur eine Nacht da draußen zuzubringen, gerade dann, wenn man die Sümpfe nicht kennt. Wir hätten sie längst finden müssen. Aber so… Es hat keinen Zweck. Geht und schlaft euch aus.«
    Schon begann sich die Gruppe aus dreißig oder vierzig Männern aufzulösen. Der Junge stand noch immer auf der Ladefläche des Pick-ups. Er wollte nicht glauben, was er da erlebte. Wie konnten sie Lydia nur so schnell aufgeben?
    »Komm. Paul hat Recht. Es ist sinnlos weiterzusuchen.« Großvaters ruhige Stimme kam ganz aus der Nähe.
    Der stille Junge schloss die Augen und rührte sich nicht. Tränen rollten ihm über die Wangen. Seine Unterlippe bebte. Er fühlte sich unendlich müde – weniger wegen der tagelangen Suche als vielmehr wegen der zermürbenden Gleichgültigkeit dieser Menschen. Die Worte des Großvaters taten ihm so weh! Sie raubten ihm fast die letzte Kraft. Im Moment spielte es für ihn überhaupt keine Rolle, dass die Stimme des alten Mannes traurig geklungen hatte. Er kannte schließlich seinen Enkel und musste doch wissen, welcher Sturm in ihm tobte. Aber warum hatte er dann gesagt, es sei sinnlos, nach Lydia zu suchen?
    Als der Junge den Kopf zur Seite drehte, konnte er durch den Schleier seiner Tränen das Mitgefühl auf dem faltigen Gesicht des Generals nicht erkennen. Er wusste nur eins: Wenn er jetzt von der Ladefläche des Wagens kletterte und mit Großvater nach Hause ging, dann war Lydia verloren. Und er wäre schuld an ihrem Tod.
    Der Junge schüttelte den Kopf, erst langsam, dann schneller und zuletzt rief er noch einmal seine eigene, ganz persönliche Entscheidung heraus, wie er es schon zuvor getan hatte.
    »Nein!«
    Einige wenige, die noch nicht den Platz vor dem Haus von Paul Friedmann verlassen hatten, blieben stehen und drehten sich zu der Stelle um, an der noch immer Toms Enkel auf dem Pick-up stand.
    »Nein!«, schrie dieser zum dritten Mal und der Ruf schien den ganzen Ort zu durcheilen und jeden wachzurütteln, der in diesem Augenblick zu schlafen wagte, jetzt, da doch Lydia ihrer aller Hilfe bedurfte.
    »Auch wenn ihr sie im Stich lasst, ich werde es nicht tun. Niemals!«, brüllte der nun gar nicht mehr so stille Junge und sein Gesicht glänzte im Fackelschein von den Tränen auf seinen Wangen. »Ich gehe noch einmal hinaus und suche Lydia, so lange, bis ich sie gefunden habe. Ihr Vater braucht sie. Und sie braucht ihn.«
    Der Junge entzog sich der dargebotenen Hand des Großvaters, stolperte vorbei an Christian Gustavson, der, obwohl auch schon ohne jede Hoffnung, noch am Pick-up stehen geblieben war, und rannte die Main Street nach Westen hinab.
    Der Vorfall war nicht unbemerkt geblieben. Diejenigen, die das verzweifelte Davonstürzen des Jungen beobachtet hatten, riefen jene zurück, die sich schon halb auf dem Heimweg befanden, und diese wiederum trugen die Nachricht noch weiter in die wenigen Nebenstraßen des kleinen Ortes hinein. Auch Paul Friedmann – eigentlich betrieb er einen Gemischtwarenladen und übte das Amt des

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