Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
gewesen und so ließen sie die beiden schließlich ziehen.
    Bis zu den Sommerferien verging dann kein Tag mehr, an dem der Junge nicht im Schulbus neben Lydia gesessen hätte. Wie sich schnell herausstellte, war das zierliche blonde Mädchen von Haus aus gar nicht so schweigsam, wie alle anderen dachten. Sie konnte reden wie ein Wasserfall, wenn sie erst einmal zu jemandem Vertrauen gefasst hatte. Dies war ihr bei dem Jungen nicht schwer gefallen.
    Er selbst wusste nicht recht, woran das lag, aber seine Großmutter behauptete immer, er besäße eine angeborene Glaubwürdigkeit, die andere auf eine fast unwiderstehliche Weise anziehe. Selbst die Tiere spürten das. Ja, die Großmutter bescheinigte ihrem Enkel eine Verbundenheit mit der Natur, die tiefer und inniger sei als jede Liebe, die ein Tier- oder Pflanzenfreund normalerweise entwickelte.
    »Du hast für dein Alter eine ungewöhnlich ausgeglichene Wesensart«, hatte sie einmal zu ihrem Enkel gesagt, während sie ihm lächelnd über das dunkle Haar strich. »Du scheinst in dir selbst zu ruhen. Ich weiß, das hört sich komisch an bei einem Jungen. Aber die Tiere täuschen sich nicht, sie vertrauen dir.«
    Der Junge fühlte sich immer unwohl, wenn er hörte, dass er anders, etwas Besonderes sei. Vielleicht streifte er auch deshalb so oft allein in den Sümpfen herum. Manche hielten ihn deswegen für einen Sonderling. Lydia Gustavson allerdings achtete nicht auf solch dummes Gerede. Seit dem Tag der Vereitelung von Smittys Plan nutzte sie jede freie Minute, um in der Nähe des Jungen zu sein.
    So dauerte es nicht lange, bis er herausbekam, warum Lydias wunderschönes Gesicht so selten ein Lachen zeigte. Er war der Einzige, mit dem sie darüber sprach: Ihre Mutter litt unter einer schweren Krankheit. »Es ist Leukämie«, vertraute sie ihm eines Tages auf dem Heimweg an. »Vater sagt, sie muss bald sterben – er sagt immer die Wahrheit.«
    Der Junge nickte bedrückt. »Du hast sie sehr lieb.« Es war keine Frage, er spürte, was sie empfand.
    Oft musste Lydia im Haushalt helfen, da ihre Mutter sehr schwach war und die meiste Zeit im Bett verbrachte. Die Gustavsons besaßen etwas Geld aus einer Erbschaft, welche die Familie erst vor einigen Jahren dazu veranlasst hatte, nach Amerika zu kommen. So konnte Christian Gustavson, Lydias Vater, sich fast ständig um seine kranke Frau kümmern. Nur ab und zu nahm er schlecht bezahlte Jobs als Hilfsarbeiter an und verdiente dadurch in den frühen Morgenstunden, manchmal auch nachts, ein paar Dollar hinzu. Doch das Geld wurde allmählich knapp, vertraute Lydia dem Jungen an. »Die Ärzte fragen nicht danach, wie viel jemand hat, solange er noch etwas besitzt.«
    Als die Sommerferien begannen, konnte der Junge endlich wieder die Everglades im weiteren Umkreis erkunden. Wann immer möglich, begleitete Lydia ihn dabei. Auf ihren gemeinsamen Streifzügen zeigte er ihr stolz »seine« Welt. Niemand konnte so mitreißend über die Everglades reden wie er. Es waren keine lauten Töne, die er dabei anschlug, aber gerade die Liebe zu den Tieren und Pflanzen, die in allen seinen Schilderungen mitschwang, fesselte Lydia wie kaum etwas anderes. Fasziniert hörte sie ihm zu, wenn er mit beinahe zärtlichen Worten von den mächtigen Alligatoren sprach. Beim gemeinsamen Beobachten der Waschbären konnte sie sogar lächeln (wenn es auch stets ein trauriges Lächeln war). Und wenn er ihr die Gigantenkröten an deren Lieblingsstellen zeigte, schüttelte sie sich und suchte hinter seinem Rücken Schutz.
    Ab und zu nahm Großvater die beiden auch in seinem Airboat mit. Dann fuhren sie hinaus aufs Pay-hay-okee, das »Meer aus Gras«, wie es die Indianer nannten. Im Everglades National Park waren die Propellerboote wegen ihres Lärms verboten, aber auch östlich von Muddy Creek konnte man stundenlang über dieses scheinbar endlose »Meer« kreuzen und sich von ihm verzaubern lassen, wenn das lange Schneidgras im Wind wogte wie die Dünung auf hoher See. Immer wieder musste man den Hammocks ausweichen, kleinen verfilzten Bauminseln, die begehrte Zufluchtsorte für die Robinson Crusoes der heimischen Tierwelt waren. Noch weiter im Osten, an der Küste vor dem Barnes Sound, tauchte man dann in Mangrovenwälder ein, wo die Bäume auf Luftwurzeln wie vielbeinige Wesen standen, bewegungslos zwar, aber nur deshalb, weil sie ein kleines Nickerchen zu halten schienen.
    Bald liebte Lydia die Sümpfe fast so, wie ihr Freund es tat. Und ihn, diesen dünnen

Weitere Kostenlose Bücher