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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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– Männer mit Scheinwerfern und Fackeln, mit Flinten und Buschmessern, mit Knüppeln und entschlossenen Gesichtern. Für die meisten war diese Suchaktion eine willkommene Abwechslung zu dem ereignisarmen Leben in Muddy Creek, eine schöne kleine Aufgabe vor dem Schlafengehen. Das gefiel ihnen. Sie sagten sich, dass Lydia ja noch nicht weit sein konnte. Ein einsames, verängstigtes Mädchen in den Everglades – wahrscheinlich würden sie die Ausreißerin am Rande des Nationalparks auflesen und der ganze Spuk hätte ein schnelles Ende.
    Nach zwei Tagen machte sich dann Erschöpfung breit, bei einigen auch Lustlosigkeit. Bei dem stillen Jungen Verzweiflung. Er hatte Großvater zu allen »Geheimplätzen« geführt, hatte ihm gesagt, wo die Männer der Bürgerwehr suchen sollten, aber vergeblich. Lydia war wie vom Erdboden verschluckt. Und jeder wusste, wie schnell diese Redensart in den Sümpfen Wirklichkeit werden konnte.
    Nach einem weiteren Tag gaben die Suchmannschaften endgültig auf. Es war bereits Abend und Dunkelheit breitete sich über dem dichten Grün der Sümpfe aus, als Bürgermeister Friedmann verkündete: »Es hat keinen Zweck. Wir haben die ganze Gegend im Umkreis von acht Meilen abgesucht. Das Mädchen muss…« Er schluckte und sah hilflos zu Christian Gustavson hinüber. »Es nützt nichts, wenn wir uns etwas vormachen, Christian. Es muss ihr etwas zugestoßen sein. Sonst hätten wir sie längst gefunden. Oder sie wäre von selbst aufgetaucht. In den Sümpfen gibt es unzählige Gefahren. Vielleicht ist sie in ein Schlammloch geraten und versunken. Oder ein Alligator hat sie erwischt.«
    Die Männer murmelten zustimmend. Einige nickten. Manche flüsterten den Namen von Old Big Shadow, einer riesigen Panzerechse, die kaum einer je gesehen hatte, deren furchtbares Wesen aber alle trefflich zu beschreiben wussten.
    »Ich denke, es ist das Beste, die Aktion abzubrechen. Ich werde dem Priester sagen, dass er morgen früh in der Kirche einen Gedenkgottesdienst abhalten soll. Vielleicht hilft’s ja was.«
    Die Männer wollten sich schon zum Gehen wenden. Nicht wenige waren erleichtert, dass die sinnlose Sucherei ein Ende hatte, und der offizielle Abbruch des Unternehmens machte es allemal leichter, das erbärmliche Gefühl, das manche in sich spürten, zu ertragen. Und doch gab es einen unter ihnen, der nicht gewillt war einfach das zu tun, was alle anderen taten.
    Der stille Junge fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen, als er die Bereitwilligkeit sah, mit der ganz Muddy Creek die Suche nach Lydia aufgeben wollte. Aber was konnte er dagegen unternehmen? Er war nur ein Elfjähriger. Er konnte den Männern schlecht befehlen die Suchaktion fortzusetzen, wie es vielleicht sein Großvater getan hätte. Doch der war ja selbst wie gelähmt von diesem schleichenden Gift, das in den letzten Stunden den Mut und die Entschlossenheit der Männer fast gänzlich abgetötet hatte!
    Doch der Junge wollte noch nicht aufgeben. Lydia lebte noch! Sie war irgendwo da draußen, gefangen in der Finsternis der Nacht und – noch viel schlimmer – in der Dunkelheit der eigenen Seele. Jemand musste sie finden, sie an die Hand nehmen, sie trösten…
    »Nein!« Es war ein langer, anklagender Aufschrei, der sich seiner Kehle entrang, zwar nur getragen von der hellen Stimme eines Knaben, aber dennoch so durchdringend, dass alle aufschreckten.
    Köpfe flogen herum, unwirsches Brummen ging durch die Menge. Welcher Dummkopf zweifelte da noch an dem, was der alte Friedmann so treffend ausgedrückt hatte?
    Der Junge riss einem in der Nähe stehenden Mann die brennende Fackel aus der Hand und sprang auf die Ladefläche eines Pick-up-Trucks. Von dort oben rief er mit verzweifelter Stimme in die ihm zugewandten Gesichter: »Der Sumpf ist kein Monster! ›Unzählige Gefahren‹ lauern darin nur für denjenigen, der ihn fürchtet.« Er sah das Unverständnis in den Mienen der müden Männer und sprach nun offen aus, was ihn bewegte.
    »Lydia Gustavson hat keine Angst vor dem Sumpf. Wir beide sind dort an so vielen Stellen gewesen. Sie liebt die Glades! Sie ist nicht fortgelaufen, um sich etwas anzutun. Der Sumpf ist im Augenblick der einzige Ort, der ihr Frieden und Geborgenheit gibt. Versteht ihr denn nicht? Ihre Mutter ist gestorben! In ihr wirbelt alles durcheinander. Sie sehnt sich nach einem stillen Platz, an dem sie alles überdenken kann. Ich weiß, dass sie da draußen ist und lebt. Deshalb müssen wir wieder aufbrechen und sie

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