Das Echo der Flüsterer
Zustimmung heischend in die Runde seiner »Mitkämpfer« blickte.
Der stille Junge, von dem die Geschichte handelt, verabscheute großspurige Reden, dienten sie doch seiner Meinung nach nur dazu, den Zuhörern den Verstand zu verkleistern, damit deren eigener Wille sich letztlich nicht mehr rühren konnte. Mitläufertum war ihm zuwider, Begriffe wie »Rache« und »gemeinschaftliche Schuld« kamen ihm wie schleichendes Gift vor. Diese Einstellung war wie ein Baum über die Jahre in ihm gewachsen, gehegt und gepflegt von seinen Großeltern und abgehärtet durch die Unbilden der Zeit, in der er aufwuchs. Es muss daher nicht verwundern, dass Smittys »Schlachtplan« ihn ziemlich anwiderte.
Dementsprechend kommentierte er das Vorhaben auch mit der Bemerkung, dass er es nicht nur gemein, sondern zugleich »komplett bescheuert« finde. (Es sollte erwähnt werden, dass Smitty einen ganzen Kopf größer war als der Junge, weil er schon zwei »Ehrenrunden« hinter sich hatte und deshalb auch den Status des Klassenältesten genoss.) Der Widerspruch des Jungen fand in der Truppe keine Anhänger. Smitty hatte einfach die schlagkräftigeren Argumente.
Der Junge dachte jedoch gar nicht daran, diesen Umständen seine Überzeugung zu opfern. Er rannte los und alarmierte die Mädchen durch lautes Rufen. Wie man vermuten kann, kochte Smitty vor Wut. Mit einem einzigen Faustschlag schlug er den stillen Jungen nieder.
Als die Mädchen auf den Schauplatz des dramatischen Geschehens strömten, saß der Junge allein auf dem Boden, noch etwas benommen, aus seiner Nase tropfte Blut. Mit knappen Worten, fast, als wolle er sich entschuldigen, erklärte er die Ursache für seine Verwundung. Aber so sehr er sich auch bemühte die ganze Angelegenheit herunterzuspielen, gelang es ihm dennoch nicht, der bewundernden Anteilnahme seiner Klassenkameradinnen zu entgehen. Er war, ehe er sich’s versah, zum galanten Helden aufgestiegen, Smitty hatte seinen Ruf als Bösewicht der Klasse einmal mehr bestätigt und die übrigen Verschwörer mussten sich eine Zeit lang mit Titeln wie »Jammerlappen« und »Schlappschwänze« abfinden.
Dem Jungen war das Ganze trotzdem ziemlich peinlich. Er mochte es nicht besonders, im Mittelpunkt zu stehen. Aber das war – wie auch die blutende Nase – nur eine nebensächliche Folgeerscheinung, die er gerne in Kauf nahm. Der Tag wurde für ihn aus einem ganz anderen Grund unvergesslich: Er hatte Lydia kennen gelernt. Sie gehörte zur Gruppe der Geretteten und hatte sich sofort um seine geschundene Nase gekümmert. Sanft wie ein Schmetterling tupfte sie mit ihrem Taschentuch das Blut ab, bemitleidete ihn etwas und ließ dann im Weiteren nicht mehr davon ab, ihn ob seiner »mutigen Haltung« zu bewundern. Ihr Trost bestätigte ihn in der Meinung, dass es durchaus lohnenswert sein konnte, auch ab und zu gegen den Strom zu schwimmen.
Während Lydia ihren »Robin Hood« verarztete, musste der sie immerzu ansehen. Er fragte sich, warum sie ihm nicht schon früher aufgefallen war. Sie schien ihm das schönste Wesen auf der Welt zu sein! Das strohblonde Haar fiel ihr weich wie ein Seidenschal über den Rücken und schimmerte hell im Sonnenlicht. Ihre Augen leuchteten wie der klare Himmel nach einem Gewitterregen. Und ihr Lächeln! Es war dem Jungen einfach nicht möglich, den Blick von diesem zarten, aber – trotz des Lachens – beinahe melancholisch wirkenden Gesicht zu nehmen.
Ohne es zu merken, lächelte der Junge zurück. Wahrscheinlich wirkte dieser Ausdruck stiller Verzückung nicht gerade sehr intelligent, aber er hatte nichts gemein mit dem anzüglichen Grinsen, das Smitty so perfekt beherrschte, und auch nicht mit jenem albernen Kichern, das die Klassenkameraden jedes Mal befiel, wenn sie sich heimlich Bilder von Marylin Monroe ansahen. Der Junge war eben einfach hingerissen von diesem Mädchen, so wie ihm auch das Glitzern eines Kolibris im Sonnenlicht oder die anmutige Schönheit einer Orchidee die Sprache rauben konnten.
Diese Sprachlosigkeit war auch Lydia Gustavson nicht entgangen, denn als es beim besten Willen nichts mehr an seiner Nase zu richten gab, sagte sie unerwartet energisch: »So, das wär’s. Jetzt müsstest du eigentlich wieder so weit in Ordnung sein, dass du mich zum Schulbus bringen kannst!«
Die anderen Mädchen beklagten sich ein wenig, weil die sonst immer so stille Lydia ihnen ihren Helden einfach entführen wollte. Doch den Schulbus zu verpassen wäre wirklich eine Riesendummheit
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