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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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schien fast unerträglich. Wer konnte, blieb tagsüber im Schatten. Die Natur hatte dem Leben einen trägen Rhythmus verordnet. Einige Touristen waren dennoch so mutig (oder dumm) und wagten sich in die Everglades; sie wurden von ganzen Scharen winziger Stechmücken zurückgeschlagen.
    Lydia beklagte sich nie über irgendetwas. Sie war ein höflicher, stiller Gast in dem großen Holzhaus, das der Junge mit seinen Großeltern bewohnte. Wenn Großmutter ihre ganz spezielle, hoch wirksame und scheußlich stinkende Anti-Moskito-und-Sandfloh-Tinktur über Lydias Gesicht verteilte, dann ließ sie es teilnahmslos mit sich geschehen. Und wenn der Junge ihr die Schlupfwinkel der Zwergsalamander zeigte oder ihr von Großvaters Alligatorenfarm erzählte, dann hörte sie schweigend zu, sah ihn aus ihren himmelblauen Augen an, aber selten erwiderte sie etwas. Und noch seltener huschte das traurige Lächeln über ihre Lippen.
    Dann, am 28. September, sie saßen gerade beim Abendessen, fuhr ein Auto die Zufahrt hinauf. Obwohl man nur die Lichter sah, ahnten, nein, wussten alle, wer in diesem Wagen saß.
    Christian Gustavson kam mit schweren Schritten die Stufen zur Veranda herauf, die das Haus ringsum umgab. Er blieb vor dem gedeckten Tisch stehen und sah Lydia nur mit schmerzerfüllten Augen an.
    Sie erwiderte den Blick eine unendliche Sekunde lang, erst fragend, um Hoffnung flehend, dann begreifend, dass es keine Hoffnung mehr gab. Sie sprang auf – der Rattanstuhl polterte hinter ihr zu Boden. Für einen Augenblick meinten alle, sie würde nun in die Arme ihres Vaters stürzen, ihr Gesicht in seiner Brust vergraben und haltlos weinen.
    Nur der Junge wusste, was wirklich in ihr vorging. Er stand langsam auf, blickte in Lydias Gesicht und schüttelte schweigend den Kopf. Tu es nicht!, flehten seine Augen. Aber er erreichte sie nicht mehr. Kummer und Schmerz hatten einen Wall um sie aufgetürmt, den zu überwinden selbst ihre Freundschaft nicht mehr fähig war. Sie wirbelte herum, lief die Stufen der Veranda hinab und verschwand in der Dunkelheit.
    »Lydia!«, rief der Junge ihr hinterher. »Bitte, tu’s nicht! Bleib hier, ich helfe dir! Bitte!«
    »Sie ist verwirrt«, sagte Christan Gustavson. »Ich kann verstehen, wenn sie so schnell wie möglich nach Hause will.«
    »Nein«, widersprach der Junge, ohne Lydias Vater anzublicken. In seinen Augen lag Furcht während er die Dunkelheit über den Sümpfen zu durchdringen versuchte. »Im Haus erinnert sie alles an ihre Mutter. Im Moment kann sie das nicht ertragen. Sie ist in die Sümpfe hinausgelaufen.«
    Lydias Vater schüttelte nur den Kopf. »Das glaube ich nicht. Warum sollte sie in die Sümpfe gehen? Macht euch keine Sorgen. Ich fahre ihr hinterher und kümmere mich um sie. Später melde ich mich noch mal.«
    Tom, der Großvater des Jungen, war ein hartgesottener Mann. Im Zweiten Weltkrieg hatte er den Rang eines Generals bekleidet und nicht wenige in Muddy Creek redeten ihn noch immer mit seinem alten Dienstgrad an. Er war es gewohnt, auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf zu bewahren, und zeigte selten seine Gefühle. Wer ihn jedoch an diesem Abend beobachtete, konnte viel über den Mann erfahren, der unter dem schroffen Äußeren steckte.
    Er kannte seinen Enkel gut genug, um Christian nicht ohne Sorge gehen zu lassen. Das Angebot ihn zu begleiten lehnte Lydias Vater ab. Er versprach noch einmal, so bald wie möglich anzurufen, damit die anderen sich nicht sorgen müssten. Als das Telefon nach einer Stunde noch immer nicht geklingelt hatte, wurde Tom immer unruhiger. Sein Enkel blickte stumpf vor sich hin. Niemand sah ihm an, wie fieberhaft seine Gedanken arbeiteten. Dann kehrte Christian Gustavson zurück. Atemlos stürzte er die Stufen der Veranda hinauf.
    »Sie ist nicht da! Ich habe noch eine ganze Weile gewartet und die Gegend um das Haus herum abgesucht. Aber ich kann sie nirgends finden.«
    Tom sah erst Christian an, dann seinen Enkel. Der sagte noch immer nichts, aber in seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, was er dachte.
    Großvater klopfte Lydias Vater ermutigend auf die Schulter und meinte: »Wir trommeln ein paar Männer zusammen und suchen in den Sümpfen nach ihr. Mein Enkel kommt mit. Er wird uns führen.«
    Diesmal fügte sich Christian Gustavson dem Vorschlag sofort. Er hatte auch mehr nach einem Befehl geklungen. Großvater war wieder der General. Und nun stellte er seine Truppe zusammen.
    Die Bürgerwehr rückte nach anderthalb Stunden aus

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