Das Echo der Flüsterer
– all das brachte die lichten, aber auch die dunklen Stunden der Vergangenheit wieder zurück.
Ein Tropfen fiel auf das malvenfarbene Gewand des Mädchens, eine Träne, die sich unbemerkt ihren Weg über seine Wange gebahnt hatte. Erst waren die Eltern gegangen und dann auch noch Lydia. Er hatte diesen Schmerz nie verwinden können. Eine spröde Stimme riss ihn aus seinen schwermütigen Gedanken.
»Friss nicht länger mir am Leben! Pack dich! Fort! Hinweg dich scher! Sprach der Rabe, ›nimmermehr‹.«
Jonas blinzelte Kraark aus tränenfeuchten Augen an. Der Rabe saß auf dem Sockel am Fußende des Mädchens.
»Ist es nicht das, was du gerade fühlst?«, fragte er.
»Ich…« Jonas wusste nicht, was er sagen sollte. Dieser sprechende Vogel war wirklich ein rätselhaftes Geschöpf.
»Ich dachte, du würdest diese Worte kennen«, sagte Kraark mit echter Besorgnis in der Stimme. »Sie stammen von einem Menschen. Er hieß Edgar Allan Poe und hatte seinem Raben beigebracht, das Wort ›nimmermehr‹ zu sprechen. Das Gedicht handelt von einem jungen Mann, der um den Tod seiner verlorenen Geliebten trauert. Gerade eben hättest du dieser Jüngling sein können, Jonas.«
Mit dem Ärmel wischte sich der Junge die Tränen von den Wangen und sah verlegen zu den Bonkas hin. Die Ältesten hatten sich vor dem Alkoven versammelt, da er innen zu wenig Platz für sie bot. Nur Syrda stand noch am Fußende des schlafenden Mädchens.
»Ich denke, du bist nun bereit uns deine Geschichte zu erzählen«, sagte die gebeugte alte Frau. Sie lächelte Jonas ermutigend zu.
Der nickte unsicher und schluckte einen Kloß hinunter. Er wusste längst, welche Geschichte er zu erzählen hatte. Vorsichtig legte er die Hände des Mädchens unter dessen Brust zusammen und umschloss sie fest mit den seinen. Wie weiß ihre Haut war!
Aber es war nicht die Farbe des Todes. Die Haut des Mädchens fühlte sich warm an. Er räusperte sich und begann dann, ohne sich noch einmal zu den Umstehenden umzublicken, mit seiner Geschichte.
JONAS’ GESCHICHTE
Er war ein sehr stiller Junge. Eigentlich fühlte er sich am wohlsten, wenn er sich in der Gesellschaft von Tieren befand. Dies bereitete seinen Großeltern nicht wenige Sorgen. Der Junge hatte seine Eltern schon früh verloren und deshalb sah man es ihm nach, wenn er ab und an die Einsamkeit suchte.
Eines schönen Tages hatte er in der Schule ein Mädchen kennen gelernt. Sie hieß Lydia und war gerade elf geworden, auf den Tag genau zwei Monate vor dem Geburtstag des Jungen. Lydia Gustavson war ihm natürlich nicht fremd. Beide besuchten dieselbe Klasse und fuhren auch jeden Morgen gemeinsam mit dem Schulbus nach Florida City. Sie wohnten beide in Muddy Creek, aber am jeweils entgegengesetzten Ende des Ortes. Aber was hieß das schon? In der Dreihundertseelengemeinde kannte jeder jeden. Die aus Schweden stammenden Gustavsons lebten allerdings sehr zurückgezogen und der Junge war viel zu scheu, um Lydia anzusprechen. Bis zu jenem sonnigen 9. Mai im Jahre 1958.
Smitty hatte den Vorschlag gemacht den Mädchen einen Streich zu spielen – eigentlich handelte es sich mehr um einen Rachefeldzug. Die weibliche Hälfte der Klasse hatte sich nämlich im Schwimmunterricht vergnügen dürfen, während die Jungs von ihrem Lehrer bei brütender Hitze um den Sportplatz gehetzt worden waren. Smitty war sehr erhitzt, einerseits von der Sonne, andererseits von der Wut in seinem Bauch. Da sein Verstand komplizierte Zusammenhänge nur schwer erfassen konnte und der Sportlehrer ein durchtrainierter, leicht reizbarer Mann war, erklärte er kurzerhand die Mädchen zu den wahren Schuldigen für diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit.
Die Mädchengruppe befand sich bereits, gemäß der Schulvorschrift, »ohne was an im geschlossenen Verband unter den Duschen« und war »deshalb leicht angreifbar«, wie Smitty den anderen Jungs mit schmierigem Grinsen erklärte. Die verminderte Wachsamkeit »des Feindes« zeige sich an dem unüberhörbaren Juchzen, Gackern und Kichern, das bis in die Umkleideräume der Jungen herüberdrang. »So blöd können auch nur Mädchen sein«, kommentierte er diese Nachlässigkeit und schlug vor, die Gunst der Stunde zu nutzen und sämtliche Sachen der Mitschülerinnen zu »entführen«. Smitty verband mit diesem »Kommandounternehmen« offenbar irgendeine besonders erheiternde Vorstellung, denn er ließ sein süffisantes Grinsen auch dann noch nicht fallen, als er um
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