Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
nicht bestätigt worden war, dass ich nur vage Pläne und im Grunde nichts zu tun hatte, als mit der neuen Situation fertigzuwerden.
Er spürte mein Zögern. »Wir würden früh aufbrechen und wären am Nachmittag zurück. Eine Abendmaschine nach Werweißwohin könnten Sie sogar noch kriegen.«
Ich sagte weder Nein noch Ja. Ich aß, lobte den Fisch; er verstand und wechselte das Thema. Was erwartet dich denn dort, wo du hinfliegst, dachte ich. Das Alte gibt es nicht mehr, dein Leben wird wieder auf Anfang gerückt, etwas Neues beginnt. Warum soll es nicht mit dem Erklimmen von zweitausendfünfhundert Metern beginnen? Ich lächelte den Deutschen an und trank mein Glas leer.
6
Das Licht um sechs Uhr früh. Ich hatte die Reinheit in den Bergen für eine kitschige Übertreibung gehalten, nichts war übertrieben. Der Himmel, der allmählich von Grau zu Blau wechselte, tiefer und höher wurde, die Rosatöne – dann, als die erste Sonne die Gipfel traf, war so viel Hoffnung in der Luft, dass der Druck meiner erfolglosen Be mühungen sanft von mir abfiel. Ich wollte hinauf, so hoch es ging. Wie konnte man sein Leben im Flachland verbringen und das Angebot eines solchen Morgens nicht kennenlernen?
Hilperth holte mich von meinem Zimmer ab. In kompletter Montur öffnete ich die Tür. Das Hotel Solsana war auf Fälle wie mich vorbereitet und verlieh Alpinausrüstungen. Ich hatte Bergschuhe, wollene Stutzen mit Edelweißmotiv, eine Kniehose aus Cord bekommen, dazu ein wasserdichtes Cape, ein Filzhut mit Hahnenfeder saß auf meinem Kopf.
»Holodrioh«, sagte er, als er mich in dieser Aufmachung erblickte.
Wir liefen zum Fahrstuhl. »Kein Pickel, kein Seil?« Ich musterte seine saloppe Kleidung, bloß Jeans und Pulli.
»Ich scheine Ihnen zu abenteuerliche Hoffnungen gemacht zu haben. Das Giferhorn ist eher ein Spaziergang.«
Sein Wagen stand vor der Tür. Hilperth brauste aus dem schlafenden Ort, ohne auf die Einwohner Rücksicht zu nehmen. Wieder ging es in Richtung Gstaad.
»Eigentlich sollte man die ganze Route, also auch den Weg bis Scheidbach, zu Fuß machen, aber Ihnen zuliebe kürze ich ab.«
Im Vorbeifahren blieb mein Blick an der Buchenhecke hängen, die das Anwesen der Zuermatts verbarg. War das erst gestern gewesen, dass ich voll Hoffnung in Pascals Elternhaus getreten war?
»Kleine Stärkung gefällig?« Hilperth holte zwei Müsliriegel und Joghurt aus seinem Rucksack, zauberte Plastiklöffel und zwei Bananen hervor. Nach dem Aufstehen hatte ich nichts essen können, nur Kaffee getrunken, jetzt meldete sich der Hunger.
Beim Aussteigen zeigte Hilperth in die Höhe. »Hinter den Hügeln, dort liegt unser Berg. Erst wenn wir die geschafft haben, können wir das Giferhorn sehen.«
Er parkte an der Talstation einer Seilbahn, schloss die Limousine ab und ging voran. Bereits nach ein paar Hundert Metern geriet ich ins Schwitzen, nahm den Hut ab und wusste nicht, wohin damit. Es ging aufwärts, erst über Grasland, dann steil durch den Wald, der ins nächste Tal führte. Das Turnelstal, erklärte Hilperth; entlang eines Baches führte er mich zu einer Brücke, dort begann der eigentliche Aufstieg. Ich bereute, die dicken Sachen angezogen zu haben. Das T-Shirt klebte mir am Körper, die raue Wolle pikste an den Waden, ich schnaufte und fuhr mit der Zunge über die Lippen, während Hilperth in stetigem Tempo vorauslief und sich nur manchmal umdrehte. Dann gab ich mir den Anschein, als ob ich mühelos folgte, und schwenkte den Hut.
»Nicht zu heiß?«, rief er.
Ich musste einen hochroten Kopf haben. »Geht schon!«
»Was zu trinken?« Er nahm den Rucksack ab.
»Nur, wenn Sie auch trinken.« Ich lief rascher.
»Besser nicht, sonst wird unser Durst nur größer.« Er schulterte den Rucksack wieder und ließ mich mit hängender Zunge stehen. »Wir sind schon auf tausendfünfhundert Metern«, sagte er fröhlich. »Man hat den Höhenunterschied kaum gemerkt, stimmt’s?«
Ich hätte ihm gern zugerufen, dass die Vorstellung, noch mal tausend Meter höher zu müssen, mich den letzten Nerv kostete, biss aber die Zähne zusammen und stapfte weiter. Quer zum Hang ging es bergauf. Wäre die Anstrengung nicht gewesen, ich hätte die Umgebung zauberhaft gefunden. Verstreut über die sonnenbeschienene Alp lagen Einzelhöfe, jeder ein Reich für sich. Erst jetzt merkte ich, dass sich Hilperth über mir auf einen Baumstumpf gesetzt hatte. Er zeigte auf ein dunkelgraues Felsmassiv, das ich auf den ersten Blick enttäuschend
Weitere Kostenlose Bücher