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Das Echo der Schuld

Das Echo der Schuld

Titel: Das Echo der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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sein eigener Schatten würden sie ihm folgen, immer dort sein, wo er gerade war. Aber vielleicht konnte er sie besser ertragen, wenn er stets in Bewegung blieb, sich nie zu lange an einem Ort aufhielt, nirgendwo verweilte, keine Wurzeln mehr schlug.
    Man konnte seiner eigenen Schuld nicht davonlaufen.
    Aber man konnte versuchen, so schnell zu laufen, dass man ihr nicht ständig in die verzerrten Züge blicken musste.
    Vielleicht war es ein richtiger Gedanke.
    Wenn der Junge starb, würde er gehen.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Erster Teil
     

Sonntag, 6. August 2006
     
    Rachel Cunningham sah den Mann, als sie von der Hauptstraße in die kleine Sackgasse abbog, an deren Ende sich die Kirche und unweit davon das Gemeindehaus befanden. Er trug eine Zeitung unter dem Arm, hielt sich im Schatten eines Baumes und schaute sich ein wenig teilnahmslos in der Gegend um. Hätte er nicht am vergangenen Sonntag an genau derselben Stelle gestanden, er wäre Rachel wohl kaum aufgefallen. So aber dachte sie: Komisch. Schon wieder der!
    Aus der Kirche konnte sie das Dröhnen der Orgel und den Gesang der Gemeinde hören. Gut, dort war die Messe noch in vollem Gang. Ihr blieb also noch Zeit, bis der Kindergottesdienst anfing. Donald, ein netter junger Theologiestudent, war damit betraut. Rachel schwärmte ein bisschen für Don, wie die Kinder ihn nannten, deshalb war sie gern etwas zu früh dran, um einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Don hielt seine Gottesdienste im Gemeindehaus ab. Wenn man ganz vorne saß, kam man öfter dran, hatte Rachel herausgefunden, und man durfte mehr Aufgaben übernehmen: die Tafel sauberwischen zum Beispiel, oder helfen, den Diaprojektor zu bedienen. Angesichts ihrer Verliebtheit war Rachel ziemlich begierig auf derartige Bevorzugungen. Ihre Freundin Julia behauptete allerdings, mit ihren acht Jahren sei Rachel viel zu jung für einen erwachsenen Mann und wisse noch gar nichts von der wahren Liebe.
    Als ob, dachte Rachel, Julia dies beurteilen könnte!
    Rachel ging jeden Sonntag in den Kindergottesdienst, außer wenn ihre Eltern etwas gemeinsam mit den Kindern geplant hatten. Nächsten Sonntag zum Beispiel, da hatte Mums Schwester Geburtstag, und sie würden schon früh am Morgen zu ihr nach Downham Market fahren. Rachel seufzte. Kein Don. Ein öder, langweiliger Tag mit vielen Verwandten, die sich ständig über Dinge unterhielten, die sie nicht interessierten. Und danach würden sie gleich in die Ferien aufbrechen. Für fast zwei Wochen. In irgendein blödes Ferienhäuschen auf der Insel Jersey.
    »Hallo!«, sagte der fremde Mann, als sie an ihm vorüberging. »Na, was hat dir denn die Laune verhagelt?«
    Rachel zuckte zusammen. Sie hätte nicht gedacht, dass sich die missmutigen Gedanken offenbar so deutlich auf ihrem Gesicht abzeichneten.
    »Ach, nichts«, sagte sie und merkte, dass sie ein bisschen rot wurde.
    Der Mann lächelte. Er sah nett aus. »Schon gut. Fremden soll man sich ja nicht gleich anvertrauen. Sag mal, gehst du in die Kirche? Da bist du nämlich ein wenig spät dran.«
    »Ich gehe in den Kindergottesdienst«, sagte Rachel, »und der fängt erst an, wenn die Kirche aus ist.«
    »Hm, ja. Verstehe. Den veranstaltet doch … na, wie heißt er …?«
    »Donald.«
    »Donald. Richtig. Alter Bekannter von mir. Wir hatten ein paar Mal miteinander zu tun … Ich bin Pfarrer, weißt du. In London.«
    Rachel überlegte, ob es in Ordnung war, dass sie hier stand und mit einem wildfremden Mann redete. Ihre Eltern sagten immer, sie solle sich von Fremden nicht ansprechen lassen und gleich weitergehen, wenn es jemand versuchte. Andererseits wirkte dieser Mann so nett, und die Situation schien völlig ungefährlich. Der helle, sonnige Tag. Die singenden Stimmen in der Kirche. Vorne auf der Straße promenierten Spaziergänger vorüber. Was sollte hier schon passieren?
    »Weißt du«, sagte der Mann, »offen gestanden habe ich gehofft, jemanden aus dem Kindergottesdienst zu treffen. Und zwar jemanden, der mir helfen kann. Du siehst mir sehr aufgeweckt aus. Meinst du, dass du ein Geheimnis für dich behalten kannst?«
    Und ob Rachel das konnte. Julia hatte ihr schon viele Geheimnisse anvertraut, und sie hatte sich noch nie verplappert.
    »Klar kann ich das«, erwiderte sie.
    »Es ist nämlich so, dass ich meinen alten Freund Donald gern überraschen würde«, sagte der Mann. »Er hat keine Ahnung, dass ich wieder in der Gegend bin. Ich war lange in Indien. Kennst du Indien?«
    Rachel

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