Das Echo der Schuld
Kim?«
Virginia drehte sich zu ihm um. »Sie schläft. Ich war oben bei ihr, habe nach ihr geschaut. Sie ist ganz friedlich. Ich habe im Augenblick nicht den Eindruck, als ob schlimme Träume sie plagten.«
»Ich fürchte trotzdem, dass später …«
»Natürlich. Die Sache ist nicht ausgestanden. Aber Kim lebt, sie ist bei uns, und sie schläft. Für den Moment ist das unendlich viel.«
»Ja.«
Er hatte beide Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Virginia fiel zum ersten Mal auf, wie stark auch er in den letzten Tagen abgenommen hatte. Wohl nicht nur wegen Kim. Auch wegen ihr.
»Grace ist am Boden zerstört«, sagte er. »Ich glaube, ich habe nie einen verzweifelteren Menschen erlebt.«
»Hast du ihr noch einmal gesagt, dass …«
»Dass sie hier bleiben kann, ja. Aber sie will nicht. Sie erträgt es einfach nicht. Und das kann ich verstehen.«
»Jack Walker«, sagte Virginia, »hat über viele Menschen unfassbares Elend gebracht.«
»Er ist krank.«
»Ist das eine Entschuldigung?«
»Nein. Nur eine Erklärung.«
Unschlüssig standen sie einander gegenüber.
»Diese Frau … Liz Alby hat mich heute Mittag angerufen«, sagte Frederic. »Sie wollte sagen, wie sehr sie sich freut, dass wir unsere Kim zurückbekommen haben. Sie geht mit dem Vater ihrer Tochter nach Spanien.«
»Sie macht Urlaub?«
»Sie wandern aus. Sie wollen es noch einmal miteinander versuchen, sagte sie mir. In einem anderen Land. Ganz neu anfangen. Sicher eine gute Entscheidung.«
»Weitergehen«, sagte Virginia, »das ist immer die einzige Möglichkeit, nicht? Um das Schicksal irgendwie zu ertragen.«
Sie lachte, ohne dabei im Geringsten fröhlich zu wirken.
»Wir versuchen jetzt alle, die vielen Scherben aufzuheben. Vielleicht sogar, sie zu kitten, wenigstens teilweise. Aber da sind zwei tote Kinder. Und zwei, die beinahe gestorben wären. Das ist nichts, was jemals heilt.«
»Und da sind wir«, sagte Frederic.
»Ja. Und weißt du, was das Schlimme ist? Wir sind nicht mehr einfach wir. Wir sind unauflösbar mit unserer Schuld verbunden. Für immer.«
»Virginia …«
Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihr Gesicht war blass. »Beinahe, Frederic, beinahe wäre es wieder geschehen. Genau das Gleiche wie damals. Vor elf Jahren ist ein kleiner Junge gestorben, weil ich vergnügungssüchtig und leichtsinnig war und nicht aufgepasst habe. Und diesmal wäre fast mein eigenes Kind gestorben. Weil ich wieder einmal nur an mich dachte. Weil ich nicht da war. Weil es mir um andere Dinge ging. Es ist ein … verdammter roter Faden in meinem Leben!«
Sie tat ihm leid. Kaum je hatte er sie so verzweifelt erlebt. Er hätte sie gern in die Arme genommen, wagte es aber nicht.
»Ich könnte es mir jetzt leicht machen«, sagte er, »und dir außer zu deiner Affäre mit Nathan Moor, mit der du mir fast die Seele in Fetzen gerissen hast, auch noch die Schuld wegen Kim aufbürden. Soll doch deine Seele auch in die Brüche gehen! Aber es wäre nicht fair. Und es wäre nicht wahr. Du warst nicht pflichtvergessen an jenem Nachmittag. Es hatten sich nur alle Umstände verschworen. Gegen dich, gegen Kim, gegen uns. Und das hätte bei jeder anderen Gelegenheit auch passieren können. Verstehst du? Ein unvorhergesehener Zahnarzttermin. Ein kaputtes Auto. Ein verknackster Fuß. Tausend Dinge hätten es jederzeit, an jedem Tag verhindern können, dass du Kim von der Schule abholst. Lass eine grippekranke Grace dazukommen und die Konstellation, dass sie den Auftrag an ihren Mann weiterzugeben versucht. Schon hast du die gleiche Geschichte. Es ist keine Frage von Schuld. Es ist eine Frage von Pech. Vielleicht auch von Schicksal. Aber nicht von Schuld.«
»Aber …«
Er unterbrach sie: »Lass endlich den kleinen Tommi los, Virginia. Er verdunkelt dein Leben seit elf Jahren. Buchstäblich. Vor ihm bist du hinter diese Mauern, unter diese düsteren Bäume geflohen. In der Hoffnung, ihn im Dämmerlicht nicht mehr so genau zu sehen. Lass ihn los. Es ist geschehen. Es ist nicht mehr zu ändern.«
Sie merkte nicht, dass sie zu weinen begann. Lautlos rollten ihr die Tränen über die Wangen.
»Der kleine Tommi …«, begann sie. Brach dann ab und ließ den Kopf sinken. »Ich kann das nie vergessen«, flüsterte sie, »nie.«
»Vergessen nicht«, sagte Frederic, »aber akzeptieren. Als etwas, das in deinem Leben geschehen ist. Etwas anderes bleibt dir gar nicht übrig.«
Sie wischte sich die Tränen ab, starrte auf ihre nassen Hände. Plötzlich dachte
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