Das Echo der Schuld
sie: Ich habe eben zum ersten Mal um Tommi geweint. Zum ersten Mal seit elf Jahren. Seitdem es geschehen ist.
»Michael«, sagte sie und räusperte sich, weil ihre Stimme so belegt war. »Ich muss Michael finden, Frederic. Ich weiß nicht, ob er noch lebt, wo er sich aufhält, was aus ihm geworden ist. Aber du hattest Recht, als du sagtest, dass ich nur dann in Frieden leben kann, wenn ich wenigstens einen Teil meiner Schuld abtrage. Ich muss ihm sagen, dass er es nicht war, der damals das Auto unverschlossen hat stehen lassen. Sondern ich. Er soll wissen, dass ihn keine Schuld trifft an Tommis Tod.«
»Wenn du möchtest«, sagte Frederic, »helfe ich dir, ihn zu finden.«
Sie nickte.
Dann sahen sie einander wieder schweigend an. In den vergangenen Tagen, in denen sie um Kim gebangt und gezittert hatten, war nicht die Zeit gewesen, über ihrer beider Situation zu sprechen. Beide wussten, dass nichts mehr so war wie früher und dass es nie wieder so sein konnte. Aber wie es weitergehen sollte, davon hatten sie keine Ahnung. Sie ahnten, dass es nicht der Moment war, dies zu klären, dass Zeit vergehen musste, ehe jeder von ihnen den Weg würde sehen können, den er gehen wollte. Ob es ein gemeinsamer Weg sein würde, das konnten sie jetzt noch nicht erkennen.
Frederic trat neben Virginia, und beide sahen sie zum Fenster hinaus. Im Spiegelbild der dunklen Scheibe konnten sie einander schattenhaft wahrnehmen. Die hohen Bäume, die das Haus so eng umschlangen, waren nicht zu sehen.
Ich möchte nicht mehr in der Dunkelheit leben, dachte Virginia. Und vielleicht sollte ich endlich einmal in einem Beruf arbeiten.
Alles muss anders werden. Mein Leben muss anders werden.
Sie sah nicht mehr ihr Bild in der Fensterscheibe. Sie sah andere Bilder, die sie mit Sehnsucht erfüllten, die sie traurig stimmten, weil sie der Vergangenheit angehörten. Und die ihr dennoch eine Richtung gewiesen hatten, die es wert sein mochte, verfolgt zu werden.
Wie aus weiter Ferne vernahm sie Frederics Stimme neben sich. »Hast du gerade an Nathan Moor gedacht?«, fragte er. Er musste sie beobachtet und die Melancholie in ihrem Gesicht erkannt haben.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nicht an Nathan Moor gedacht.«
Sie fragte sich, ob er ihr glaubte.
Nicht die Erinnerung an Nathan Moor war es, was sie für immer in sich tragen würde, nicht die Erinnerung an seine Person.
Sondern die an zwei Septembertage auf Skye. An den eisblauen Himmel über Dunvegan. Und an den kalten Wind, der vom Meer kam.
Weitere Kostenlose Bücher