Das Echo der Schuld
nettere Kinder hatten; jedenfalls konnte sie nirgendwo eine Mutter entdecken, die so kämpfen musste wie sie. Ihr fiel ein, wie sie damals über Abtreibung nachgedacht hatte. Sie war nicht religiös, hatte aber dennoch eine undefinierbare Furcht vor einer Art Rache des Schicksals gehabt, wenn sie das Kind in ihrem Bauch töten würde. Heute, während sie sich, das schreiende kleine Ungeheuer mit sich zerrend, schwitzend den Strand entlangquälte, dachte sie plötzlich inbrünstig: Hätte ich es doch getan! Hätte ich doch bloß den Mut gehabt! Ganz gleich, was an Bösem auf mich zurückgefallen wäre, es hätte nicht schlimmer sein können als das hier!
Irgendwann hatten sie eine Stelle erreicht, die Liz geeignet erschien, den Tag dort zu verbringen. Sie breitete ihr Handtuch und das von Sarah aus und machte sich daran, eine Sandburg zu bauen – damit Sarah endlich Ruhe gäbe. Tatsächlich hörte die Kleine auf zu schreien und beteiligte sich eifrig beim Bauen. Liz atmete auf. Vielleicht vergaß Sarah ja die hölzernen Pferde. Vielleicht wurde es doch noch ein harmonischer Tag.
Sie zog ihren neuen Bikini an und wusste, dass sie großartig aussah. Er war im Preis herabgesetzt gewesen, dennoch eigentlich zu teuer für ihr schmales Gehalt, aber sie hatte nicht widerstehen können. Ihre Mutter durfte ihn natürlich nie entdecken, sonst würde sie losschreien, Liz könnte von nun an einen höheren Betrag zu Hause beisteuern, wenn sie offenbar in der Lage war, ihr Geld für Luxusartikel zu verschwenden. Als ob sie ewig in dem schäbigen Einteiler, der mittlerweile vier Jahre alt war, herumlaufen könnte! Wenn sie einen Mann finden wollte, der sie aus all dem Elend herausholte, musste sie zuvor etwas investieren. Aber derlei Dinge mit Mum besprechen zu wollen, war völlig sinnlos.
Sarah baute noch immer mit Hingabe an ihrer Burg. Liz streckte sich auf ihrem Handtuch aus und schloss die Augen.
Sie hatte wohl eine ganze Weile geschlafen, denn als sie sich aufsetzte und um sich blickte, merkte sie, dass die Sonne schon sehr hoch stand und es auf Mittag zugehen musste. Der Strand war noch viel bevölkerter als am Morgen; ringsum wimmelte es von Menschen. Viele lagen einfach nur in der Sonne, andere spielten Federball oder Boccia oder liefen gerade zum Wasser. Kinder schrien und lachten, das Meer plätscherte leise. In der Ferne konnte man das undeutliche Brummen eines Flugzeuges hören. Es war ein vollkommener Tag.
Liz' Gesicht brannte; sie hatte zu lange in der Sonne gebraten und sich zuvor nicht einmal mit einem Schutzmittel eingerieben. Zum Glück vertrug ihre Haut eine Menge. Sie wandte sich um und sah, dass Sarah ebenfalls eingeschlafen war. Offenbar hatten ihr Geschrei und das Bauen der Burg sie ermüdet, denn sie lag zusammengerollt auf ihrem Badetuch, atmete tief und gleichmäßig, und der Mund stand ein wenig offen.
Gott sei Dank, dachte Liz. Schlafend fand sie ihre Tochter stets am liebenswertesten.
Sie merkte, dass sie Hunger bekommen hatte und dass sie keine Lust auf ihre eigenen Brote mit der faden Margarine und dem Käse, der immer nach Seife schmeckte, verspürte. Gleich bei der Bushaltestelle gab es einen Imbissstand, an dem man besonders köstliche Baguettebrötchen, die dick mit Tomaten und Mazzarella belegt waren, kaufen konnte. Liz liebte diese Brötchen und Sarah ebenfalls. Dazu eine schöne eiskalte Cola anstelle des warmen Mineralwassers in ihrem Korb … Liz stand auf und kramte ihren Geldbeutel hervor. Kurz betrachtete sie ihr schlafendes Kind. Wenn sie Sarah jetzt aufweckte und mitnahm, würde diese wieder das Karussell mit den Pferden entdecken und nur unter Tränen und Geschrei zur Rückkehr an den Strandplatz zu nötigen sein.
Wenn ich mich beeile, dachte Liz, dann bin ich gleich wieder zurück, und sie merkt überhaupt nichts. So tief, wie sie schläft …
Es waren so viele Menschen ringsum; was sollte passieren? Selbst wenn Sarah aufwachte und zum Wasser ging, konnte sie kaum unter den Augen so vieler Leute ertrinken.
Ich bin ja in spätestens zehn Minuten zurück, dachte Liz und lief los.
Die Strecke war länger, als sie gedachte hatte, offenbar waren sie und Sarah am Morgen doch ein ganzes Stück den Strand entlanggelaufen. Aber es war schön, sich zu bewegen, und sie registrierte genau, dass ihr viele Männerblicke folgten. Sie hatte eben eine tolle Figur, trotz der Geburt des Kindes, und der Bikini war einfach perfekt für sie, das hatte sie schon im Geschäft gleich gemerkt.
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