Das Echo der Schuld
wusste, dass das ein Land in weiter Ferne war und dass die Menschen, die von dort kamen, eine dunklere Hautfarbe hatten als die Engländer. In ihre Schulklasse gingen zwei indische Mädchen.
»Ich war da noch nicht«, sagte sie.
»Aber es würde dich doch interessieren, Bilder von dort zu sehen, oder? Von den Kindern in ihren Dörfern. Wie sie leben und spielen, und wo sie zur Schule gehen. Na, wäre das nicht spannend?«
»Doch. Ja.«
»Siehst du. Und ich habe ganz viele Dias von Indien. Die würde ich gern in eurem Kindergottesdienst zeigen. Aber ich brauche jemanden, der mir dabei assistiert.«
Das Wort kannte Rachel nicht. »Was heißt das?«
»Nun, jemanden, der mir hilft, die Kästen mit den Dias hineinzutragen. Die Leinwand aufzuhängen. Glaubst du, dass du das könntest?«
Das hörte sich genau nach einer Aufgabe an, wie Rachel sie liebte. Sie stellte sich vor, wie Don staunen würde, wenn sie mit seinem alten Freund ankam und dann mit ihm Dias von jenem fernen Land zeigte. Julia würde platzen vor Neid!
»Das könnte ich! Auf jeden Fall! Wo sind denn die Dias?«
»Halt«, bremste der Mann. »Die habe ich noch nicht dabei. Ich wusste ja nicht, dass ich hier eine so begabte, hilfsbereite Person wie dich treffen würde. Ich dachte an den nächsten Sonntag?«
Rachel wurde schwach vor Schreck. Ausgerechnet der nächste Sonntag! Den sie bei ihrer Tante in Downham Market verbringen würde … Und anschließend die Ferien auf Jersey …
»Oh, das ist ja furchtbar! Da bin ich nicht hier! Meine Eltern …«
»Dann muss ich doch versuchen, jemand anderen zu finden«, meinte der Mann.
Das war eine schier unerträgliche Vorstellung.
»Bitte«, flehte Rachel, »können Sie nicht noch …«, sie rechnete hastig nach, »… noch drei Wochen warten? Wir fahren nämlich in die Ferien. Aber wenn wir zurück sind, würde ich auf jeden Fall mitmachen! Ganz sicher!«
»Hm«, überlegte der Mann. »Das dauert aber noch ganz schön lange«, meinte er dann.
»Bitte«, flehte Rachel wieder.
»Glaubst du wirklich, du kannst das Geheimnis so lange für dich behalten?«
»Ganz bestimmt. Ich sage niemandem etwas! Ehrenwort!«
»Du dürftest Donald nichts erzählen, denn den will ich ja überraschen. Und deiner Mum und deinem Dad auch nichts. Meinst du, das geht?«
»Ich sage meiner Mum und meinem Dad sowieso nichts«, behauptete Rachel, »die interessieren sich auch gar nicht für mich.«
Das stimmte nicht ganz, das wusste sie. Aber seit drei Jahren, seitdem Sue auf der Welt war, die kleine Schwester, die Rachel nie gewollt hatte, war alles anders geworden. Früher war sie der Mittelpunkt der Welt für Mum und Dad gewesen. Jetzt drehte sich alles um den Quälgeist, der ständig beaufsichtigt werden musste.
»Und deiner besten Freundin?«, vergewisserte sich der Mann. »Der sagst du auch nichts?« »Nein. Ich schwöre es!«
»Gut. Gut, ich glaube dir. Pass auf, wir treffen uns dann am Sonntag in drei Wochen unweit meiner Wohnung. Wir fahren zu mir, und du hilfst mir, die Sachen ins Auto zu laden. Du wohnst in King's Lynn?«
»Ja. Hier in Gaywood.«
»Okay. Dann kennst du sicher den Chapman's Close?«
Den kannte sie. Ein Neubaugebiet mit noch nicht fertig gestellten Mehrfamilienhäusern. Der Chapman's Close endete in einem Feldweg. Eine ziemlich einsame Gegend. Rachel und Julia fuhren dort manchmal mit ihren Fahrrädern herum.
»Ich weiß, wo das ist«, sagte sie.
»Sonntag in drei Wochen? Um Viertel nach elf?«
»Ja. Ich bin ganz bestimmt da!«
»Allein?«
»Natürlich. Wirklich, Sie können sich auf mich verlassen.«
»Ich weiß«, sagte er und lächelte wieder sein sympathisches Lächeln, »du bist ein großes, vernünftiges Mädchen.«
Sie verabschiedete sich von ihm und ging dann weiter in Richtung Gemeindehaus. Mit stolzgeschwellter Brust.
Ein großes, vernünftiges Mädchen.
Noch drei lange Wochen. Sie konnte es kaum abwarten.
Montag, 7. August
Am Montag, den 7. August, verschwand Liz Albys einziges Kind.
Es war ein wolkenloser Sommertag, so heiß, dass man hätte meinen können, man sei in Italien oder Spanien, aber keinesfalls in England. Obwohl sich Liz schon immer über die abfälligen Bemerkungen, das englische Wetter betreffend, geärgert hatte. So schlecht war es nämlich gar nicht, die Leute klebten einfach nur an ihren Klischeevorstellungen. Zumindest war es eine Frage der Region. Der Westen, der die Wolken abbekam, die Tausende von Kilometern über den Atlantik herangezogen
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