Das Echo der Schuld
kann ja nicht weit sein«, sagte Liz, um sich selber Mut zuzusprechen.
Die Dicke wandte sich an eine Bekannte, die ein Handtuch weiter im Sand saß. »Hast du die kleine Dunkelhaarige gesehen, die hier schlief? Die Mutter war vorn bei den Buden, und nun ist das Kind verschwunden!«
Natürlich musste auch die Bekannte ihrer Empörung über Liz' Fehlverhalten Ausdruck verleihen. »Bis da vorn? Also, so lange würde ich mein Kind nicht allein lassen!«
Blöde Kuh, dachte Liz inbrünstig.
Tatsächlich hatte einfach niemand auf Sarah geachtet. Die Dicke nicht, ihre Bekannte nicht, und auch sonst niemand von den Leuten ringsum, die Liz in steigender Panik und Verzweiflung fragte. Sie zog immer größere Kreise, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass sie auf jemanden stieß, der ihr etwas über den Verbleib der Kleinen sagen konnte. Sie lief ans Wasser hinunter, aber auch dort fand sich keine Spur von Sarah.
Sie konnte nicht ertrunken sein. Vor den Augen so vieler Menschen ertrank kein Kind.
Oder doch?
Noch einmal keimte Hoffnung in ihr, als ihr der Gedanke kam, Sarah könnte sich auf eigene Faust auf den Weg zu dem Karussell mit den Pferden gemacht haben. Schließlich war sie ganz verrückt danach gewesen. Also lief sie erneut den Weg bis zur Bushaltestelle und sah tatsächlich etliche Kinder am Karussell, aber Sarah war nicht darunter. Sie fragte den Besitzer. »Sie fällt auf. Sie hat lange schwarze Haare, sehr dunkle Augen. Sie trägt blaue Shorts und ein gestreiftes T-Shirt!«
Der Besitzer des Karussells dachte nach. »Nein«, sagte er dann, »nein, ein solches Kind war hier heute nicht. Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Sie lief zurück. Unterwegs begann sie zu weinen. Sie war in einen Albtraum geraten. Sie hatte völlig verantwortungslos gehandelt, und nun wurde sie auf bitterste Weise dafür bestraft. Bestraft für alles: für ihre Gedanken an Abtreibung, für ihre zornigen Tränen, als man ihr Sarah nach der Geburt in den Arm gelegt hatte, für die vielen Male, da sie gewünscht hatte, es möge dieses Kind nicht geben, für all ihr Hadern und Fluchen. Für ihren Mangel an mütterlichen Gefühlen.
Sarah war nicht am Strandplatz, als Liz erneut dort ankam. Der Anblick ihres kleinen Badetuchs tat Liz plötzlich so weh, dass die Tränen, die sie gerade mühsam zurückgedrängt hatte, erneut hervorschossen. Neben dem Tuch lag die Papiertüte mit den unseligen Baguettes im Sand, und die Colaflasche. Wie unwichtig diese Dinge waren! Und doch hatte Liz über eine Stunde zuvor einen solchen Heißhunger darauf verspürt, dass sie sich sogar um die Sicherheit ihres Kindes nicht mehr gekümmert hatte.
Die dicke Frau, die noch immer die Stellung hielt, musterte sie nun mitleidig. »Keine Spur?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Liz weinend, »keine Spur.«
»Warum haben Sie mich denn nur nicht gleich angesprochen? Ich hätte doch aufgepasst, während Sie das Essen holten!«
Ja, warum hatte sie das nicht getan? Liz konnte sich selbst nicht verstehen. Was wäre einfacher gewesen, als eine andere Mutter zu bitten, ein Auge auf das schlafende Kind zu halten?
»Ich weiß nicht«, murmelte sie, »ich weiß nicht …«
»Sie müssen die Polizei verständigen«, mischte sich die Bekannte der Dicken ein. Sie wirkte durchaus betroffen, aber es war auch spürbar, dass sie diesen Strandtag als unerwartet spannend empfand. »Und die Badeaufsicht. Vielleicht …« Sie wagte offenbar nicht, den Satz auszusprechen.
Liz blitzte sie böse an. »Wie soll denn ein Kind hier ertrinken? Es sind mindestens hundert Menschen im Wasser! Ich meine, ein schreiendes, strampelndes Kind würde doch irgendjemandem auffallen!«
Die Dicke legte ihr die Hand auf den Arm. Ihr Mitleid schien sehr aufrichtig. »Trotzdem. Sie gehen jetzt zur Badeaufsicht. Dort wird man wissen, was als Nächstes zu tun ist. Vielleicht kann man Ihre Tochter auch ausrufen. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ein Kind und seine Eltern sich hier in diesem Gewühl verlieren. Lassen Sie nicht den Kopf hängen!«
Die freundlichen Worte der anderen ließen Liz' Selbstbeherrschung endgültig zusammenbrechen. Sie schluchzte nun haltlos, ließ sich in den Sand fallen, krümmte sich nach vorn und konnte kein Wort mehr hervorbringen. Für den Moment hatte sie jegliche Energie verlassen.
Die dicke Frau seufzte, beugte sich zu ihr und nahm ihre Hand. »Kommen Sie. Ich begleite Sie. Elli kann auf meine Kinder aufpassen. Sie sind ja völlig fertig. Jetzt geben Sie doch
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