Das Echo der Traeume
obwohl die Aufregung deutlich weniger geworden war, herrschte den ganzen Tag über reges Treiben. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Dazu läutete es an der Tür oder es klingelte das Telefon oder die Kinder liefen über den Flur. Untermalt wurde das Ganze von noch mehr Schluchzern, noch mehr Lachen, noch mehr Wehklagen, dann wieder Gelächter. Am Nachmittag klingelte es bei mir. Ich dachte, vielleicht sind sie es, möglicherweise brauchten sie etwas, wollten mich um einen Gefallen bitten, sich womöglich etwas bei mir borgen: ein halbes Dutzend Eier, eine Tagesdecke, ein Kännchen Olivenöl. Doch ich irrte mich. Es läutete jemand, mit dessen Erscheinen ich nie im Leben gerechnet hätte.
» Señora Candelaria sagt, Sie sollen so schnell wie möglich in die Calle Luneta kommen. Don Anselmo, der Lehrer, ist gestorben.«
Paquito, der dickliche Sohn der Matrone, überbrachte mir schwitzend die Nachricht.
» Geh schon mal vor und sag ihr, ich komme sofort.«
Ich berichtete Jamila, was geschehen war, und sie weinte bitterlich. Ich vergoss keine Tränen, doch es war mir weh ums Herz. Von allen Querulanten, mit denen ich damals in der Pension zusammengelebt hatte, war er derjenige, der mir am nächsten stand, der liebste. Ich zog das dunkelste Kostüm an, das ich in meinem Kleiderschrank finden konnte. Für solche Gelegenheiten hatte ich einfach noch nichts Passendes. Jamila und ich hasteten durch die Gassen, bis wir unser Ziel erreicht hatten, und stiegen ein Stück die Treppe hinauf. Weiter kamen wir nicht, denn eine Gruppe Männer stand dicht gedrängt beisammen und versperrte uns den Weg. Unter dem Einsatz unserer Ellenbogen mussten wir uns förmlich einen Weg durch die Menge der Freunde und Bekannten bahnen, die respektvoll darauf warteten, dass sie an die Reihe kamen, um Don Anselmo die letzte Ehre zu erweisen.
Die Tür zur Pension stand offen. Noch bevor wir die Türschwelle überschritten hatten, nahmen wir schon den Geruch von brennenden Kerzen wahr und hörten das dumpfe Gemurmel weiblicher Stimmen, die gemeinsam beteten. Candelaria kam uns entgegen. Sie hatte sich in ein schwarzes Kostüm gezwängt, das ihr zweifelsohne zu eng war. Über ihrer üppigen Büste baumelte ein Anhänger mit dem Antlitz der Jungfrau Maria. In der Mitte des Esszimmers, auf dem Tisch, hatte man den offenen Sarg mit Don Anselmos wächsernem Leichnam im Sonntagsgewand aufgebahrt. Als ich ihn da so liegen sah, lief mir ein Schauder über den Rücken und Jamila krallte sich an meinem Arm fest. Ich küsste Candelaria zur Begrüßung auf die Wangen, und sie benetzte mit einem Rinnsal von Tränen mein Ohr.
» Da liegt er, gefallen auf dem Schlachtfeld.«
Ich erinnerte mich an die Streitereien, deren Zeugin ich tagtäglich beim Essen zwischen den einzelnen Gängen gewesen war. Daran, wie Sardellengräten und gelbe, runzlige Melonenschalen quer über den Tisch geflogen waren. An die bissigen Scherze und Beleidigungen, die Gabeln wie Lanzen gezückt, an das Gebrüll auf beiden Seiten. An die Provokationen und Drohungen der Matrone, die sie nie wahr machte. Ein Esstisch, der wahrlich zum Schlachtfeld umfunktioniert worden war. Ich unterdrückte ein trauriges Lachen. Die ältlichen Schwestern, die Matrone und ein paar Nachbarinnen, alle in Trauerkleidung, saßen am Fenster und beteten mit monotoner und weinerlicher Stimme einen Rosenkranz. Für einen Moment stellte ich mir Don Anselmo zu Lebzeiten vor – mit einer Zigarette im Mundwinkel, wie er zornig und von Husten geschüttelt die Schwestern anbrüllte, sie sollten, verdammt noch mal, endlich aufhören, für ihn zu beten. Doch der Lehrer weilte nicht mehr unter den Lebenden, sie aber schon. Vor seinem aufgebahrten Leichnam, wie gegenwärtig und warm er auch noch sein mochte, konnten sie machen, was immer ihnen in den Sinn kam. Candelaria und ich setzten uns neben sie, und die Pensionswirtin fiel in das Gebet ein. Ich tat es ihr nach, aber in Gedanken war ich ganz woanders.
Herr, erbarme dich unser.
Christus, erbarme dich unser.
Ich rückte mit meinem Stuhl an sie heran, bis sich unsere Arme berührten.
Herr, erbarme dich unser.
» Ich muss dich was fragen, Candelaria«, flüsterte ich ihr ins Ohr.
Christus, höre uns.
Christus, erhöre uns.
» Was denn, Herzchen?«, antwortete sie mit ebenso leiser Stimme.
Gott, Vater im Himmel, erbarme dich unser.
Gott Sohn, Erlöser der Welt.
» Ich habe gehört, dass Leute aus der roten Zone geholt werden.«
Gott Heiliger
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