Das Echo der Traeume
Liebe. Es muss sehr hart für dich sein, sie in der roten Zone zu wissen, unter diesen Leuten, wo ihr alles Mögliche zustoßen kann …«
Ich sah sie traurig an. Wie sollte ich ihr begreiflich machen, was sie nicht verstehen konnte, wie sollte ich diesem hübschen, blond gewellten Kopf begreiflich machen, welche Tragödie mein Heimatland gegenwärtig durchlebte?
» Diese Leute sind ihre Leute, Rosalinda. Meine Mutter ist bei ihren Leuten, sie ist zu Hause, in ihrem Viertel, bei ihren Nachbarn. Sie gehört zu dieser Welt, zum Volk von Madrid. Nicht wegen der Dinge, die ihr dort zustoßen könnten, will ich sie zu mir nach Tetuán holen, sondern weil sie das Einzige ist, was ich in diesem Leben habe, und es belastet mich mit jedem Tag mehr, dass ich keine Nachricht von ihr erhalte. Seit einem Jahr habe ich nichts von ihr gehört, ich habe keine Ahnung, wie es ihr geht, wovon sie lebt, wie sie in diesen schwierigen Zeiten über die Runden kommt.«
Wie bei einem Luftballon, in den man eine Nadel sticht, platzte von einer Sekunde auf die andere der ganze Schwindel von meinem aufregenden früheren Leben. Und das Erstaunlichste war – es war mir vollkommen gleichgültig.
» Aber … Ich habe gehört … dass deine Familie …«
Ich ließ sie nicht ausreden. Rosalinda war ehrlich zu mir gewesen und hatte mir ihre Geschichte erzählt, ohne etwas zu verheimlichen. Jetzt war für mich der Moment gekommen, ebenfalls aufrichtig zu sein. Vielleicht würde ihr die Version meines Lebens, die sie nun zu hören bekam, nicht gefallen. Vielleicht würde sie ihr, verglichen mit dem abenteuerlichen Leben, das sie gewohnt war, sehr langweilig erscheinen. Vielleicht würde sie auf der Stelle beschließen, mit mir niemals mehr einen Pink Gin zu trinken, mich niemals mehr zu einer Fahrt nach Tanger in ihrem Dodge-Cabrio einzuladen, doch die Wahrheit musste jetzt einfach heraus. Ich hatte schließlich nur diese eine Wahrheit.
» Meine Familie besteht aus meiner Mutter und mir. Wir sind beide Schneiderinnen, einfache Schneiderinnen mit keinem anderen Kapital als unseren Händen. Seit meiner Geburt hatte mein Vater keinerlei Beziehung zu uns. Er gehört einer anderen Gesellschaftsschicht an, einer anderen Welt. Er hat Geld, ein Unternehmen, Kontakte, eine Frau, die er nicht liebt, und zwei Söhne, mit denen er sich nicht versteht. Das alles hat er. Oder hatte, ich weiß es nicht. Beim ersten und letzten Mal, als ich ihn sah, hatte der Krieg noch nicht begonnen, und er ahnte bereits, dass man ihn umbringen würde. Und mein Bräutigam, jener attraktive und unternehmungslustige Verlobte, der angeblich als Firmenmanager in Argentinien arbeitet und finanzielle Angelegenheiten klären muss – er existiert gar nicht. Es stimmt, dass ich einmal mit einem Mann zusammen war, und es kann sein, dass er gegenwärtig in jenem Land geschäftlich tätig ist, aber das ist mir inzwischen vollkommen gleichgültig. Er ist nichts weiter als ein Schuft, der mir das Herz gebrochen und alles genommen hat, was ich besaß. Es ist mir lieber, nicht mehr von ihm zu reden. Das ist mein Leben, Rosalinda, ganz anders als deines, wie du siehst.«
Als Erwiderung auf meine Beichte kam von ihr ein Wortschwall in Englisch, bei dem ich lediglich das Wort Morocco identifizieren konnte.
» Ich habe kein Wort verstanden«, entgegnete ich verwirrt.
Daraufhin antwortete sie mir in Spanisch:
» Ich habe gesagt, dass es keinen Menschen interessiert, woher du kommst, wenn du die beste Schneiderin in ganz Marokko bist. Und was deine Mutter betrifft, nun ja. Wie heißt es doch so schön: Gott lässt sinken, aber nicht ertrinken. Es wird sich schon eine Lösung finden, du wirst sehen.«
25
Am frühen Morgen des nächsten Tages ging ich wieder aufs Kommissariat, um Don Claudio vom Scheitern meiner Verhandlungsbemühungen in Kenntnis zu setzen. Nur zwei der vier Polizisten saßen an ihrem Platz: der alte und der dünne.
» Der Chef ist noch nicht da«, verkündeten sie im Chor.
» Wann kommt er denn für gewöhnlich?«, fragte ich.
» Um halb zehn«, sagte der eine.
» Oder um halb elf«, meinte der andere.
» Oder erst morgen.«
» Oder gar nicht.«
Beide lachten, während sie mich sabbernd anstierten. Ich merkte, dass mir die Kraft fehlte, diese Ochsen noch eine Minute länger zu ertragen.
» Sagen Sie ihm bitte, dass ich hier gewesen bin. Und dass ich in Tanger war, dort aber nichts erreicht habe.«
» Euer Wunsch sei mir Befehl, meine Königin«, antwortete einer von
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