Das Echo der Traeume
alledem wusste ich nicht, weil ich es persönlich miterlebt hätte, sondern weil Rosalinda mich in diesen Monaten mit zahlreichen ausführlichen Briefen, die mir in Tetuán immer wie ein Geschenk des Himmels erschienen, auf dem Laufenden hielt. Obwohl sie sich ausgiebig am gesellschaftlichen Leben beteiligte, war sie durch ihre Krankheit gezwungen, viele Stunden im Bett zu liegen, und diese Zeit nutzte sie, um Briefe zu schreiben und die zu lesen, die sie von ihren Freunden bekam. Es entwickelte sich eine Gewohnheit daraus, die uns wie ein unsichtbares Band über Zeiten und Länder hinweg zusammenhielt. In ihrer letzten Nachricht von Ende August 1940 berichtete sie mir, dass die Madrider Zeitungen bereits vom unmittelbar bevorstehenden Ausscheiden des Außenministers aus der Regierung schrieben. Bis dahin sollte es allerdings noch einige Wochen dauern, sechs oder sieben. Und in diesen Wochen geschahen Dinge, die meinem Leben, wieder einmal, eine vollkommen andere Richtung gaben.
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Zu den Beschäftigungen, denen ich mich seit der Ankunft meiner Mutter in Tetuán widmete, gehörte das Lesen. Dolores ging, wie schon immer, früh zu Bett, und Félix ließ sich kaum noch blicken, sodass meine Abende nun um einige Stunden länger waren. Bis meinem lieben Nachbarn etwas einfiel, damit mich nicht mehr die Langeweile plagte. Mein neuer Zeitvertreib trug Frauennamen und befand sich zwischen zwei Buchdeckeln: Fortunata und Jacinta, ein Roman in zwei Bänden, verfasst von dem wunderbaren Schriftsteller Benito Pérez Galdós. Von diesem Tag an verbrachte ich meine gesamte Freizeit mit der Lektüre aller Wälzer, die er besaß. Nach einigen Monaten hatte ich sie alle gelesen und begann, mir aus der Bibliothek des Protektorats Nachschub zu holen. Als der Sommer 1940 zur Neige ging, hatte ich zwei oder drei Dutzend Romane verschlungen und fragte mich, was ich tun konnte, um nicht länger die Zeit totschlagen zu müssen. Da schneite mir unerwartet ein neuer Text ins Haus. Kein Roman dieses Mal, sondern ein Telegramm auf blauem Papier. Keine unterhaltsame Lektüre, sondern eine Aufforderung. » Persönliche Einladung. Privatparty in Tanger. Freunde aus Madrid warten. 1. September. Um sieben abends. Dean’s Bar.«
Mein Herz machte einen Satz, aber trotzdem entfuhr mir ein Lachen. Ich wusste, von wem diese Botschaft kam, es brauchte gar keine Unterschrift. Zahllose Erinnerungen stürmten auf mich ein: Musik, Gelächter, Cocktails, überraschende Nöte wegen einer Einladung und Worte in fremden Sprachen, kleine Abenteuer, Ausflüge im Cabrio mit offenem Verdeck, pure Lebenslust. Ich verglich jene vergangenen Tage mit meinem gegenwärtigen Leben, in dem eine Woche so eintönig verlief wie die andere, mit Näharbeiten und Anproben, Fortsetzungshörspielen im Radio und abendlichen Spaziergängen mit meiner Mutter. Das einzig Spannende waren hin und wieder ein Film, in den Félix mich schleppte, und die Schicksalsschläge und die Liebeleien der Figuren in den Büchern, die ich Nacht für Nacht als Mittel gegen die Langeweile verschlang. Dass Rosalinda mich in Tanger erwartete, löste einen Freudentaumel in mir aus, auch wenn es nur eine kurze Begegnung sein würde.
Als ich am 1. September zur angegebenen Stunde die Bar des Hotels El Minzah betrat, fand dort jedoch keine Party statt, nur vier oder fünf Grüppchen mir unbekannter Personen saßen an den Tischen verteilt. Am Tresen standen zwei einsame Trinker und dahinter auch nicht Dean. Vielleicht war es noch zu früh für den Klavierspieler, es war geradezu totenstill, ganz anders als früher. Ich setzte mich an einen unauffälligen Tisch und schickte den Kellner, der sich nach meinen Wünschen erkundigte, wieder fort. Zehn nach sieben, Viertel nach sieben, zwanzig nach sieben. Von einer Party nichts zu sehen. Um halb acht ging ich zum Tresen und fragte nach Dean. Der arbeitet nicht mehr hier, erfuhr ich. Er hat seinen eigenen Laden aufgemacht, Dean’s Bar. Wo? In der Rue Amerique du Sud. Ich lief los. In zwei Minuten war ich dort, die Lokale lagen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Dean, dünn und schwermütig wie immer, erkannte mich schon vom Tresen aus, kaum dass ich durch die Tür trat. Bei ihm war mehr los als in der Hotelbar: Es waren nicht viele Gäste da, aber sie unterhielten sich etwas lauter, etwas entspannter, hin und wieder lachte auch jemand. Dean begrüßte mich nicht, sondern wies nur mit seinen dunklen Augen auf einen Vorhang im Hintergrund. Ich ging
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