Das Echo der Traeume
oberhalb der Stelle saß, ab der ein Ausschnitt nicht mehr als sittsam gelten konnte. Aber dennoch überaus elegant. Als einzigen Schmuck trug ich eine lange silberne Kette mit einer dekorativen alten Schere aus demselben Material. Schneiden konnte man damit nicht mehr, doch als ich sie auf der Suche nach einer Lampe in einem Antiquitätenladen entdeckte, beschloss ich sofort, mein neues Erscheinungsbild damit zu vervollständigen.
Die Dame gönnte mir kaum einen Blick, während sie sich vorstellte, sie schien sich vielmehr davon überzeugen zu wollen, ob dieses Atelier ihren Wünschen genügte. Sie zu bedienen fiel mir nicht schwer, ich brauchte mir nur vorzustellen, ich sei nicht ich selbst, sondern eine Reinkarnation von Doña Manuela in Gestalt einer attraktiven und kompetenten Fremden. Wir nahmen im Salon Platz, jede in einem Sessel, sie in einer resoluten, ein wenig männlich wirkenden Pose und ich mit elegant übereinandergeschlagenen Beinen, wie ich es Tausende Male geübt hatte. Dann erläuterte sie mir in ihrem Sprachenmischmasch ihre Wünsche. Zwei Kostüme, zwei Abendkleider. Und ein Ensemble zum Tennisspielen.
» Kein Problem«, schwindelte ich.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie zum Teufel ein Ensemble für derlei Betätigung aussehen sollte, war aber keinesfalls gewillt, meine Unwissenheit zuzugeben, und wenn ein Exekutionskommando vor mir gestanden hätte. Wir blätterten die Zeitschriften durch und sahen uns verschiedene Schnitte an. Für den Abend wählte sie je ein Modell der zwei größten Modeschöpfer jener Zeit, von Marcel Rochas und Nina Ricci, die sie in einer französischen Zeitschrift mit Haute Couture der Herbst/Winter-Saison 1936 entdeckte. Die Vorlagen für die beiden Kostüme fand sie im amerikanischen Harper’s Bazaar. Sie stammten von Harry Angelo, einem Couturier, von dem ich noch nie gehört hatte, was ich jedoch tunlichst für mich behielt. Begeistert von meiner großen Auswahl an Modemagazinen fragte mich die Deutsche in ihrem rudimentären Spanisch, woher ich sie denn hätte. Ich tat, als würde ich sie nicht verstehen. Wenn sie erfahren hätte, wie trickreich meine Geschäftspartnerin, die Schmugglerin, vorgehen musste, um in ihren Besitz zu gelangen – meine erste Kundin hätte sicherlich sofort das Weite gesucht, und ich hätte sie nie wiedergesehen. Dann machten wir uns an die Auswahl der Stoffe. Dank der mir von verschiedenen Geschäften zur Verfügung gestellten Muster konnte ich ihr eine ganze Palette von Farben und Stoffqualitäten vorlegen, die ich ihr nacheinander ausführlich beschrieb.
Die Entscheidung fiel relativ schnell. Chiffon, Samt und Organza für den Abend, Flanell und Kaschmir für den Tag. Über den Tennisdress und den Stoff dafür sprachen wir nicht, dazu würde ich mir schon zu gegebener Zeit etwas ausdenken. Der Besuch dauerte eine gute Stunde. Nach etwa dreißig Minuten hatte Jamila ihren – stummen – Auftritt. Sie erschien in einem türkisfarbenen Kaftan, die großen schwarzen Augen mit Khol umrahmt, in den Händen ein auf Hochglanz poliertes Tablett mit arabischem Gebäck und süßem Minztee. Die Deutsche nahm die kleine Stärkung erfreut an, und ich bekundete meinem neuen Hausmädchen mit einem kaum wahrnehmbaren verschwörerischen Augenzwinkern meinen Dank. Als Letztes hieß es noch Maßnehmen. Mit leichter Hand trug ich die Maße in ein ledergebundenes Heft ein. Die weltgewandte Version der Doña Manuela, in die ich mich verwandelt hatte, erwies sich als überaus nützlich. Wir einigten uns darauf, dass die erste Anprobe in fünf Tagen stattfinden sollte, und verabschiedeten uns formvollendet. Adiós, Frau Heinz, vielen Dank für Ihren Besuch. Adiós, Señorita Quiroga, hasta la vista. Kaum hatte ich die Tür hinter ihr geschlossen, musste ich mir den Mund zuhalten, um nicht einen Freudenschrei auszustoßen, und die Beine fest in den Boden stemmen, sonst wäre ich wie ein übermütiges Fohlen herumgesprungen. Wenn ich meinen spontanen Impulsen hätte nachgeben können, dann wäre ich vor lauter Begeisterung geplatzt, dass wir unsere erste Kundin an Land gezogen hatten.
Während der nächsten Tage arbeitete ich praktisch rund um die Uhr. Es war das erste Mal, dass ich selbständig, ohne Aufsicht oder Hilfe von meiner Mutter oder Doña Manuela, Schnitte für einen so wichtigen Auftrag erstellte. Deshalb setzte ich bei dieser Aufgabe alle fünf Sinne ein, tausendfach geschärft, und trotzdem hatte ich ständig Angst, ich könnte
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